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Das Ende - Alten, S: Ende

Das Ende - Alten, S: Ende

Titel: Das Ende - Alten, S: Ende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Alten
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Menschen kletterten übereinander, um einen einzelnen Lüftungsschlitz zu erreichen. Ich muss das Bewusstsein verloren haben, denn das Pfeifen des Zuges riss mich aus meinen Träumen, als wir unser Ziel Oświęcim erreichten – Auschwitz.
    Noch immer kann ich die blendend hellen Suchscheinwerfer und die Soldaten in ihren schwarzen Uniformen und mit ihren Maschinenpistolen vor mir sehen. Die Luft war so eisig wie heute Nacht, von der Lokomotive stiegen wirbelnde Dampfschwaden auf. Durch diesen Nebel streifte ein gut gekleideter Mann. Später erfuhren wir seinen Namen: Dr. Josef Mengele.
    Dies war das erste Mal, dass ich den Todesengel sah. Er trug eine weiße Robe mit Kapuze und schwebte über Mengeles linker Schulter. Er sah mich an, und dann musterte er meine Mutter und meine drei Schwestern, und jede seiner Augenhöhlen wimmelte von Dutzenden flackernder Augen – den Augen von Zeugen, Augen, die das Böse gesehen hatten.
    Mengele gab mir und meinem Vater ein Zeichen. Wir wurden von den Frauen getrennt und nach rechts geführt. Die Frauen – Mütter mit kleinen Kindern, Schwestern und Töchter, Tanten und Großmütter –, sie alle wurden
nach links geschickt. Ich erinnere mich, wie die Leute schrien, als die Familien getrennt wurden. Ich erinnere mich noch daran, wie eine Mutter sich weigerte, ihre wimmernde kleine Tochter auf den Arm zu nehmen, weil sie wusste, dass sie damit das Schicksal des Kindes besiegeln würde. Ich sah, wie die SS sie auf der Stelle erschoss.
    Das war die letzte Nacht, in der ich meine Mutter und meine Schwestern lebend gesehen habe. Wir erfuhren später, dass man sie in die Gaskammern geführt hatte. Später, als die Krematorien gebaut wurden, wurden die Kinder direkt in die Öfen oder in offene Feuergruben geworfen. «
    Shep fühlte sich elend. Er zitterte am ganzen Körper.
    »Die Männer und die Jungen, die so kräftig waren, dass man sie für arbeitsfähig hielt, wurden eine umzäunte und mit Stacheldraht gesicherte Straße entlang zum Haupttor des Lagers geführt. Dort befand sich eine Inschrift: Arbeit macht frei. Doch es gab keine Freiheit in Auschwitz-Birkenau. Es gab kein Licht, nur Dunkelheit.
    Jeder Morgen begann mit einem Appell und der täglichen Selektion. Wir wurden gezwungen, nackt – und manchmal stundenlang – in der Kälte zu stehen, während die Ärzte uns untersuchten und bestimmten, wer leben und wer sterben sollte. Mein Vater befahl mir, auf der Stelle zu laufen, damit meine Wangen sich röteten und alle sehen konnten, wie stark ich war. Wir erhielten Essensrationen, bei denen ein Hund verhungert wäre – ein Stück Brot, einen Schöpflöffel voll Suppe. Wenn man eine Kartoffelscheibe bekam, so war das ein guter Tag. Wir wurden zu wandelnden Knochengestellen – zu menschlichen Skeletten, an denen kein Fett mehr
war und kaum noch Muskeln, und unseren Puls konnte man durch die Haut hindurch erkennen.
    In meinem Mund bildeten sich Abszesse, und der ständige Hunger machte mich wahnsinnig. Eines Tages entdeckte ich einen Streifen grünen Grases. Ich aß es und wurde auf den Tod krank, der Durchfall hätte meinem Leben fast ein Ende gemacht. Unsere Kleider verfaulten. An den Füßen trugen wir Holzschuhe, in denen wir nicht schnell gehen konnten, aber das war immer noch besser, als nackt zu sein. Nackt zu sein hieß, vollkommen schutzlos zu sein. Nackt zu sein vergrößerte unsere Scham.
    Alles wurde noch schlimmer, sobald die Krematorien errichtet waren und in Betrieb genommen wurden. Die Öfen brannten Tag und Nacht. Über dem Kamin schwebte eine große, schwarze Rauchsäule, die den Himmel verdunkelte wie ein mäandernder Fluss. Danach habe ich den Todesengel mehrmals wiedergesehen; inzwischen waren seine Kleider schwarz.«
    »Hattest du Angst vor ihm?«
    »Nein. Ich hatte Angst vor den Nazis. Ich hatte Angst vor Mengele. Der düstere Schnitter war der Tod, und der Tod bedeutete Erlösung, doch die Nazis machten den Weg in den Tod so grauenvoll, dass man alles tat, um am Leben zu bleiben. Außerdem hatten wir einen Pakt geschlossen. Wir empfanden es gegenüber unseren Familien als unsere Pflicht zu überleben, und sei es auch nur, um dem Rest der Welt von den Gräueltaten zu berichten, die wir erlitten hatten.
    Wir arbeiteten an den Toten. Wir wurden zu Zahnärzten, wir brachen die Metallfüllungen aus ihren Zähnen und lösten die Brücken aus ihren Kiefern. Wir sammelten und sortierten ihre Habseligkeiten – ihre Koffer, die
Handtaschen der Frauen, Schmuck,

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