Das Ende - Alten, S: Ende
entschieden, es nicht zu tun, dann ist das nicht mein Gott. Er ist ein Monster.«
Mühsam stand Virgil auf. Sein Rücken schmerzte. »Ich verstehe deine Gefühle, Patrick. Ich habe diesen Gedanken schon Tausende Male gehört. Die Antwort gründet sich auf den wahren Sinn des Lebens – des Lebens, das eine Prüfung für die Seele ist, die ihr tikkun zu Ende führen muss. Das Böse existiert, damit der freie Wille eine Wahl treffen kann.«
»Welche Wahl hattest du, als deine Mutter und deine Schwestern vergast wurden? Wenn Gott das alles sah,
warum hat Er dann nicht auf deine Gebete geantwortet? «
»Gott hat auf unsere Gebete geantwortet. Die Antwort war nein .«
»Nein?« Patrick schüttelte ungläubig den Kopf. »Und das kannst du akzeptieren? Die Nazis warfen Kinder in die Öfen, und Gott hielt das für eine coole Sache?«
»Natürlich nicht. Aber wer sind wir denn, dass wir es wagen könnten, den Plan des Schöpfers zu kritisieren? Du bist ein Mensch, der in seinem eigenen kleinen Mikrokosmos aus Raum und Zeit lebt, und dein ganzes Verständnis der Existenz basiert auf einer einzigen, bisher drei Dekaden umfassenden Lebensspanne, die du in der physischen Welt zugebracht hast. Dieses physische Universum aber stellt weniger dar als ein Prozent dessen, was wirklich da draußen ist.«
»Diese Menschen waren unschuldig, Virgil! Sie wurden Opfer des entfesselten Bösen.«
»Das entfesselte Böse, wie du es nennst, existiert schon lange. Aber nehmen wir mal an, ich stimme dir zu – welche Reaktion Gottes wäre denn angemessen gewesen? Eine weitere Sintflut? Oder vielleicht hätte Gott ja den erstgeborenen Sohn jeder deutschen Familie töten sollen, wie Er das in Ägypten getan hatte? Wie wäre es mit einem neuen Ausbruch der ägyptischen Plagen? Oder hattest du etwas mehr Feuer und durch die Luft fliegende Trümmer erwartet wie bei einer Atombombe? Nein, warte, die kam ja erst später, Gott sei Dank übrigens, denn wegen der Bombe ist die Welt jetzt sehr viel sicherer, nicht wahr? Der freie Wille, Patrick. Gott hat uns seine Gebote gegeben, doch wir allein entscheiden darüber, ob wir sie befolgen oder nicht. Oder gibt es zu den Worten Du sollst nicht töten eine Zusatzklausel, die
besagt, es geht schon in Ordnung, Hunderttausende Unschuldige umzubringen, wenn man die arabischen Ölfelder übernehmen will?«
»Saddam war böse. Wir kamen als Befreier.«
»Und von wem musstet ihr die amerikanischen Ureinwohner befreien, als eure Vorfahren das Land der Indianer gestohlen und ihre Stämme ausgelöscht haben? «
Patrick wollte antworten, hielt jedoch einen Augenblick inne und dachte nach. »Gut, in dieser Sache hast du recht. Das haben wir ganz alleine zu verantworten, und ich bin genauso schuldig wie jeder andere auch.«
»Ja, das bist du, wie jede lebende Seele, und solange du dein tikkun noch nicht abgeschlossen hast, wirst du in die physische Welt zurückkehren … vorausgesetzt, es gibt dann überhaupt noch etwas, wohin du zurückkehren kannst.«
Die beiden erreichten die Spitze des Hügels und sahen die Grabsteine vor sich, die sich weit über den Trinity-Friedhof hinzogen. Jenseits des sich absenkenden Geländes im Osten lag der Broadway, eine der größten Verkehrsadern, vom Licht Hunderter Feuer erleuchtet.
Virgil deutete hinüber. »Wir können dem Broadway bis zum Battery Park folgen, aber es ist gefährlich. Die Pest hat sich weiter ausgebreitet, und die Menschen sind voller Panik. Du musst den Impfstoff gut in deinem Mantel verstecken, oder für deine Frau und deine Tochter wird nichts mehr übrig sein. Patrick, hörst du mir überhaupt zu?«
Patrick hörte nicht zu. Seine Blicke folgten dem rissigen Asphaltweg, der rechts von einer Reihe von Mausoleen und links von Grabsteinen gesäumt wurde.
»Was ist?«
»Ich glaube, ich habe ein größeres déjà vu .«
»Du warst schon einmal hier?«
»Ich glaube nicht. Aber plötzlich ist alles so kalt, als wäre ich in eine Kühltruhe geklettert. Oh nein … Er ist es.«
Mitten auf dem Weg stand der Sensenmann und deutete mit seinem Knochenfinger auf einen Grabstein, auf dem sich die Skulptur eines engelgleichen Kindes befand.
»Virgil, er ist hier.«
»Der Todesengel? Wo?«
»Kannst du ihn nicht sehen? Er steht direkt vor uns auf dem Weg. Er deutet auf ein Grab. Virgil, was soll ich tun?«
»Komm ihm nicht zu nahe. Lass nicht zu, dass er dich berührt. Kannst du den Namen auf dem Grabstein lesen?«
»Nein.«
»Bist du sicher, dass du noch nie
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