Das Ende - Alten, S: Ende
dass du deine Gefühle wieder unter Kontrolle bekommst!
Er zwang sich zu langsamen, bewussten Atemzügen. Die heftigen Schmerzen klangen ab bis auf ein erträgliches Maß.
Er sank auf das Kissen zurück. Versuchte die Bruchstücke der Erinnerung zu durchforsten, die den Anfall stets zu begleiten schienen – die Erinnerung an den Unfall, den letzten Tag seines letzten Einsatzes.
Ein grauer Himmel. Warmes Metall in seiner linken Hand. Ein blendendes Licht. Die schädelerschütternde Explosion, die jeden Laut auslöschte, das Gefühl, wie seine Haut sich verflüssigte, wie er in Schwärze eintauchte.
Shep schlug die Augen auf. Er schüttelte das Entsetzen ab. Wendete seine Aufmerksamkeit wieder dem Polaroid zu.
Der Sprengstoff war doppelt grausam gewesen; nicht nur, dass er ihm den Arm geraubt hatte; während er zugleich ein Loch in seine Erinnerung bohrte, hatte er auch die bleibenden Bilder auf dem Foto gestohlen und den Kopf seiner Frau versengt. Sosehr er sich auch bemühte, Patrick konnte ihr Gesicht nicht festhalten, und
sein geistiges Auge erhaschte nur kurze, frustrierende Blicke.
Bei verwundeten Veteranen gingen die mit dem Verlust eines Körperteils verbundenen seelischen Narben tief, was oftmals zu Anfällen von Depression führte. Bei Patrick Shepherd ist die Belastung nichts im Vergleich zu dem leeren Gefühl, von einer Ehefrau und einem Kind getrennt zu sein, deren Vorhandensein er in seinem Herzen registriert, an deren Gesichter er sich aber nicht mehr erinnern kann. Der Verlust bleibt ein dauernder Angriff auf Sheps Identität. Im Wachzustand konnte dieser Verlust übermächtig sein; im Schlaf begünstigte er heftige Albträume.
Seine Ärzte in Deutschland hatten ihm die Wahl gelassen, in welches Veteranenkrankenhaus in den Staaten er geschickt werden wollte, und die Wahl war einfach gewesen. Von jenem Tag an hatte er sich vorgestellt, wie er im Bett lag oder vielleicht gerade in einer Therapie war, wenn seine Seelengefährtin und seine Tochter – jetzt ein Teenager – eintraten, um ihn zurückzuholen.
Durch den geteilten Vorhang, der sein Bett umgab, lauschte er auf das Schnarch- und Pfeifkonzert der anderen Kriegsveteranen, und seine Augen wurden glasig vor Tränen, als er den Blick auf das leuchtende rote EXIT-Zeichen heftete und sich so allein fühlte, wie ein menschliches Wesen sich nur fühlen kann.
»Die Stärke einer Korrektur ist gleichwertig und entgegengesetzt zur Täuschung, die ihr vorangegangen ist.«
»The Daily Reckoning«
NOVEMBER
Tepito-Flohmarkt
Tepito, Mexiko
17:39 Uhr
Am nördlichen Rand des historischen Zentrums von Mexiko-Stadt gelegen, gehörte das Barrio Tepito zur Colonia Ampliación Morelos im Stadtbezirk Cuauthémoc. Zusammen mit den Barrios Lagunilla und Peralvillo bildete Tepito einen der größten Flohmärkte in ganz Lateinamerika. Lagunilla und Peralvillo sind Künstlermärkte, wo alles verkauft wird, von T-Shirts bis zu Antiquitäten und Schmuck. Tepito, auch bekannt als »Barrio Bravo«, als »Wildes Viertel«, war ein reiner Schwarzmarkt.
Tepitos Geschichte ging zurück auf das Aztekenreich. Die Azteken gründeten das Viertel als Teil ihres Sklavenhandels. Als den Leuten verboten wurde, ihre Waren in Tlatelolco zu verkaufen, richteten die Tepiteños ihren eigenen Markt ein – einen Ort, wo Diebe ihre gestohlenen Waren absetzen konnten.
Heute war das Viertel vom Verbrechen schwer gezeichnet, wurde von mehr als fünfzig Gangs kontrolliert und von Drogenkartellen beherrscht. Wer den Markt betrat, fand nachgemachte Designerklamotten, gestohlene Kameras und Stand um Stand mit raubkopierten CDs und DVDs. Gebrauchte Elektronikartikel wurden als neu verkauft, Kochgeschirr und andere Waren waren unschlagbar
billig, nachdem sie »vom Lastwagen gefallen« waren. Wenn man seinen Pass verlor, konnte man ihn wahrscheinlich in Tepito für 5000 Dollar zurückkaufen. Jemand brauchte während seines Aufenthalts in Mexiko gefälschte Papiere oder eine Waffe? Sein Reiseziel hieß Tepito.
Die Einwohner von Tepito waren sehr religiös. An fast jeder Ecke standen Altäre, deren beherrschendes Element La Santa Muerte war – die »Heilige Frau Tod« oder der »Heilige Tod«.
Niemand wusste mit Bestimmtheit, wie dieser weibliche Sensenmann, diese Schnitterin, entstanden war. Historiker verfolgten ihre Ursprünge zurück auf Mictlantecuhtli, den Herrscher des Totenreiches Mictlan, und dessen Gefährtin Mictlantecuhtzi. Von der römisch-katholischen Kirche
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