Das Ende der Geduld
der Schule. Ein Beispiel: Der Schüler beleidigt seinen Lehrer mit den Worten „Hurensohn, ich ficke die ganze Schule". Drei Wochen später treffen sich beide vor Gericht. Der Schüler hat noch nicht die Lehranstalt gewechselt, man begegnet einander täglich. In diesen Situationen hat bereits die Hauptverhandlung einen erzieherischen Effekt. Wenn sich in der Verhandlung abgesehen von der Straftat zeigt, dass der Jugendliche Unregelmäßigkeiten im Schulbesuch aufweist, verhänge ich oft eine Schulbesuchsweisung. Der Angeklagte, der zwar ohnehin der Schulpflicht unterliegt, aber diese geflissentlich ignoriert, wird damit zum Schulbesuch verurteilt. Das hat eine interessante Folgewirkung: Ich rufe die Klassenlehrer an und teile mit, dass Steven - so nennen wir ihn hier einmal - in der Schule zu erscheinen hat. Wenn er nicht da ist, will ich sofort informiert werden. Dann kann ich einen Anhörungstermin ansetzen und einen Beugearrest bis zu vier Wochen verhängen. Der Jugendliche lernt dabei, dass die Schule und das Gericht in Kontakt stehen und man nicht bei Gericht erzählen kann, man ginge stets zur Schule, während man in der Schule behauptet, man habe mal wieder einen Gerichtstermin. Die Autorität der Lehrkraft wird auf diese Weise nebenbei gestärkt, die Schulpflicht kann unter Umständen besser durchgesetzt werden. Die Lehrerinnen und Lehrer empfinden diese Vorgehensweise jedenfalls überwiegend als hilfreich.
Man kann sehen, dass nicht immer die Urteilsarreste die eigentliche Reaktion in den vereinfachten Verfahren sein müssen, was die Kritiker des Modells häufig behaupten: Es gehe uns nur darum, möglichst viele Täter möglichst frühzeitig einzusperren. Wie bereits erwähnt, können im vereinfachten Verfahren alle Maßnahmen unterhalb einer Jugendstrafe verhängt werden. Häufig reichen auch Freizeitarbeiten zur Erarbeitung eines kleinen Geldbetrages zugunsten des Opfers, ein Anti-Gewalt-Seminar oder eine Betreuungsmaßnahme aus. Es kommt den Richtern also nicht auf die Härte der Maßnahme, sondern auf die rasche Reaktion auf die Straftat an.
Ich bemühe mich schließlich darum, den Polizeibeamten oder die Polizeibeamtin, die das Verfahren in Gang gesetzt haben, gleich nach der Hauptverhandlung anzurufen, um das Ergebnis mitzuteilen. Dann kann der Sachbearbeiter erkennen, dass seine Arbeit zu einer erheblichen Beschleunigung beigetragen hat. Davon erhoffe ich mir eine erhöhte Aufmerksamkeit aufseiten der Polizei für den Nutzen der Verfahren und eine Stärkung der Motivation. Jeder Mensch arbeitet besser, wenn er weiß, was aus seiner Tätigkeit hervorgeht.
Ich habe mit der Einführung dieser Verfahrensart im Januar 2008 zunächst im Kleinen für den Zuständigkeitsbereich „meines" Polizeiabschnittes begonnen. Die Ausweitung der Struktur auf weitere Bezirke erfolgte im Laufe eines Jahres. Ab dem 1.6.2010 wird aufgrund der Initiative meiner Jugendrichterkollegen, der Staatsanwaltschaft, der Jugendgerichtshilfen und der Polizei die Ausweitung der Verfahrensart auf Gesamtberlin realisiert. Das liest sich selbstverständlich, war es aber nicht. Insbesondere habe ich völlig unterschätzt, wie groß die Irritation über den Vorstoß in einer so hierarchisch organisierten Institution wie der Polizei sein kann - zumindest auf der Führungsebene. Da erscheinen Amtsrichter ohne schriftliches Konzept oder einen Auftrag „von oben" einfach auf dem Polizeiabschnitt in ihrem Zuständigkeitsbereich und wollen etwas ändern: nur ein paar Abläufe verfeinern, den Blick für die geeigneten Verfahren schärfen, sich persönlich vorstellen, die Zusammenarbeit verbessern, ohne die Distanz zwischen den Gewalten zu verlieren. Das hat nachhaltige Wirkungen hinterlassen, und zwar auf mehreren politischen Ebenen. Allerdings ist meine Herangehensweise auch ziemlich unkonventionell gewesen, was mir erst im Nachhinein bewusst geworden ist. Sicher hätte man bei längerem Nachdenken den Weg „von oben nach unten" gehen und die Hierarchien beachten können. Aber da ich selbst in gewisser Weise an der Basis arbeite, bin ich auch zur Basis gegangen. Dort wird man, ähnlich wie in den Schulen, am ehesten verstanden, arbeiten doch alle auf derselben „Baustelle".
Ich rechne es dem Polizeipräsidenten und der Justizsenatorin hoch an, dass sie sich im Ergebnis nicht quergestellt haben und bald hinter der Idee standen. Ohne ihre Beteiligung wäre ja eine Ausweitung der Verfahren kaum denkbar gewesen. Besonders die einzelnen
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