Das Ende der Geduld
zusammengetragen werden. Danach befasst sich die Staatsanwaltschaft mit der Angelegenheit. Mehrere Aktenbände werden gesichtet. Schließlich erhebt der Staatsanwalt die Anklage. Oft stelle ich fest, dass mehrere Wochen vergehen, bis eine diktierte Anklage auch geschrieben wird. Wenn diese dann beim Gericht eingeht, muss sie dem Angeklagten übersandt werden, damit er Gelegenheit bekommt, sich dazu zu äußern. Falls sich ein Verfahren wegen erheblicher Delikte gegen mehrere Angeklagte richtet, hat jeder von ihnen mindestens einen Verteidiger. Diese nehmen dann der Reihe nach Akteneinsicht. Wenn das geschehen ist, muss der Richter mit den Anwälten die Hauptverhandlungstermine absprechen, was inzwischen eine Kunst ist. Die Strafverteidiger, die von den Angeklagten bevorzugt werden, stecken häufig in anderen Großverfahren. Das erschwert es dem Richter, einen zeitnahen Termin festzusetzen. Die Verhandlung kann sich dann wiederum aus den zuvor dargestellten Gründen über Wochen hinziehen, es sei denn, man schließt einen „Deal" ab. Es versteht sich von selbst, dass hier wenig Spielraum zur Verkürzung der Abläufe gegeben ist.
In den Einzelrichtersachen, die ich ebenfalls weiter vorne vorgestellt habe, kann dagegen teilweise anders agiert werden. Hier setzt der Grundgedanke des sogenannten „Neuköllner Modells" an: die geschicktere Nutzung der §§ 76 ff. des Jugendgerichtsgesetzes (JGG), der vereinfachten Jugendverfahren. Hier geht es um die Verfahrensbeschleunigung, die Unterbindung der langen Liegezeiten der Vorgänge bei den beteiligten Institutionen und eine verbesserte Kommunikation. Nehmen wir den Fall eines 14-jährigen Rabauken, der seine überschießenden Kräfte nutzt, um an einer Bushaltestelle einen Mülleimer zu zertreten. Er wird „auf frischer Tat" angetroffen: Eine Streife „meines" Polizeiabschnittes kommt vorbei. Ein Beamter kennt den Jungen. Er hatte erst letzten Monat im Rahmen einer Mutprobe eine Schachtel Zigaretten geklaut. Man vernahm ihn, die erbosten Eltern holten ihn ab, er bekam eine Ansage von der Polizei, sich künftig anders zu verhalten, und musste sich beim Ladenbesitzer entschuldigen. Juristisch nennt man diesen Vorgang „Diversionsmaßnahme". Die hat offenbar nicht lange gewirkt. Die Idee nun: Wir gingen zu „unseren" Polizeiabschnitten und wiesen auf die Möglichkeit hin, einen solchen Fall aufgrund der offensichtlichen Notwendigkeit einer etwas formaleren Sanktionierung des Verhaltens in einem vereinfachten Jugendverfahren zu bearbeiten. Von dieser Verfahrensart hatten die Polizeibeamten bisher noch nichts gehört, was ihnen nicht vorzuwerfen ist. Das JGG ist das Handwerkszeug der Staatsanwaltschaft und der Gerichte. Es bietet im Rahmen des vereinfachten Jugendverfahrens die Möglichkeit, ohne Einhaltung von Formen oder Fristen unmittelbar auf Straftaten zu reagieren. Wenn dem Staatsanwalt im oben dargestellten Fall nach Abschluss der polizeilichen Ermittlungen die Akten vorgelegt werden und er sieht, dass die Beweislage überschaubar ist, kann er einen formlosen Antrag bei Gericht stellen, vereinfacht zu verhandeln. Der Richter seinerseits kann sofort einen Hauptverhandlungstermin festsetzen. Eine Anklage, die ewig beim Schreibdienst verschwindet, und die Einhaltung von Fristen entfallen bei dieser Verfahrensart. Leider vergehen auch bei den Verfahren nach § 76 JGG oft Monate, bis die Akten von der Polizei zur Staatsanwaltschaft gelangen. Dann geht das vorhandene Potenzial einer schnellen richterlichen Reaktion verloren. Wenn aber die Polizei bereits erkennt, dass ein Sachverhalt für ein vereinfachtes Verfahren in Betracht kommt, kann ein immenser Beschleunigungseffekt erzielt werden. Dies setzt allerdings eine Kommunikation zwischen den einzelnen Verfahrensbeteiligten voraus.
Wir haben im Rahmen des Neuköllner Modells folgendes System entwickelt: Im Gegensatz zur üblichen Bearbeitungsweise kann der Beamte in oben genanntem Beispielsfall die Staatsanwaltschaft anrufen, um dieser den Sachverhalt und die Beweislage zu schildern. Der Staatsanwalt entscheidet dann, ob der Vorgang für ein besonders beschleunigtes, vereinfachtes Verfahren in Betracht kommt. Wenn er zustimmt, werden die notwendigen Ermittlungen, also die förmliche Vernehmung des Beschuldigten und gegebenenfalls einiger Zeugen, so rasch wie möglich durchgeführt und die Akten dann per Boten der Staatsanwaltschaft überbracht. Das Verfahren wird bereits bei der Polizei „vor die Klammer gezogen".
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