Das Ende der Geschichten (German Edition)
Ersatzteil für die Reparatur beschafft hat.») Hatte man ihn getötet, weil er schließlich doch zu viel Großzügigkeit erwartete? Oder war er ohne sein Wissen zur Figur in einem Ritual geworden, deren Rolle es nicht entsprach, noch einmal zurückzukehren? Vi, Rowan und ihre Studenten beschlossen, eine Situation nachzustellen, die der von Cook und den Inselbewohnern möglichst nahe kam. Sie mieteten ein altes Strandhotel, das als «Hawaii» fungierte: eine geschlossene Gemeinschaft, die von Cook besucht, wieder verlassen und dann erneut aufgesucht wurde. Rowan spielte Cook, und Vi übernahm die Rolle des hawaiianischen Königs und Häuptlings. Die Studenten waren die Inselbewohner und mussten nach Abschluss des Projekts darüber berichten, was sie dabei empfunden hatten, vor Cook im Staub zu kriechen und ihn von vorn bis hinten zu bedienen. Konnte allein das einen von ihnen dazu verleitet haben, Cook töten zu wollen, oder steckte noch mehr dahinter? Wie sehr hatten sie selbst an das Ritual geglaubt? Rowan seinerseits schrieb darüber, wie interessant es gewesen sei, unterwürfiges und großzügiges Verhalten in solchem Umfang zuzulassen und anzunehmen und dann festzustellen, dass man nach einiger Zeit völlig außer sich geriet, wenn man nicht mehr alles bekam, was man wollte. Eine überarbeitete Darstellung des Experiments wurde später in der Zeitschrift Granta veröffentlicht.
Kurz nachdem ich Rowan kennengelernt hatte, fragte ich Vi nach ihm, und sie erzählte mir, dass er allergrößten Wert darauf legte, immer eine gute Landkarte und vernünftige Wanderschuhe dabeizuhaben, ganz gleich, wo er hinfuhr. Ich brachte es damals nicht über mich, mir einzugestehen, dass ich mich für ihn interessierte, sog aber jedes ihrer Worte gierig auf. Wahrscheinlich hätte ich auch noch seine Schuhgröße in Erfahrung gebracht, wenn das irgendwie möglich gewesen wäre. Als ich hörte, dass Vi und er am selben Tag Geburtstag hatten, schlug ich sogar sein Horoskop nach, obwohl ich nicht an Horoskope glaubte. Was Rowan mir über Vi erzählte, wusste ich größtenteils bereits. Ihre Projekte fußten immer darauf, «Eingeborene zu werden», wie sie das selbst provokant formulierte. Im Lauf der Jahre hatte sie sich etliche Sprachen, fünf komplexe Tätowierungen, drei Herbarien mit angeblich ausgestorbenen Pflanzen, eine komplette Trommelausrüstung, ein Kleid aus Blättern sowie eine Malariaerkrankung zugelegt. Nachdem sie sich über lange Zeit hinweg mit dem Pazifikraum beschäftigt hatte, beantragte sie an ihrer Universität ein weiteres Freisemester, suchte sich eine Stelle als Altenpflegerin und widmete sich dem ethnographischen Studium eines Seniorenheims in Brighton, woraus ihr Bestseller Bitte lasst mich sterben hervorging. Im Augenblick war sie mit einem Projekt zur Subkultur und dem Stilempfinden alternder Menschen in Großbritannien beschäftigt. Rowan witzelte häufig darüber, was allerdings fast immer auf seine Kosten ging.
Vi konsultierte niemals Landkarten, sondern vertraute auf eine eigentümliche Form von «Glück», um sich in ihrer Umgebung zurechtzufinden. Wenn sie irgendwo einen gefällten Baum sah, entschuldigte sie sich im Namen der Menschheit bei ihm. Sie sprach mit leblosen Gegenständen wie mit lebendigen Wesen; seit ihrer Zeit im Altenheim begannen die meisten dieser Gespräche allerdings mit den Worten: «Und wie zum Geier geht’s dir?» Zum Desinfizieren benutzte sie Teebaumöl, Magenbeschwerden bekämpfte sie mit Ingwer und alles andere mit hochdosiertem Manuka-Honig. Einmal war ich mit Frank und Vi in Schottland wandern und hatte miterlebt, wie sie Franks verstauchten Knöchel mit Hilfe einer Flasche Essig und etlicher Gänseblümchen kurierte. Das schilderte ich Rowan sehr detailliert und hatte anschließend das Gefühl, Vi verraten zu haben, indem ich über sie lachte. Aber wir lachten ja über vieles, Rowan und ich.
Irgendeinen Vorwand fanden wir immer, um im Lucky’s Mittag zu essen oder Kaffee trinken zu gehen und unsere langen, weitschweifigen Gespräche fortzusetzen. Darin ging es um unsere Ansichten zum Gitarrespielen und um die Fragen, ob es legitim war, beim Lösen von Querdenker-Kreuzworträtseln ein Nachschlagewerk zu benutzen, warum es keiner von uns beiden ertrug, an einem unaufgeräumten Tisch zu sitzen, warum wir beide ungern einkaufen gingen und wie viele Fährunglücke es eigentlich schon auf dem Dart gegeben hatte. Wir stellten fest, dass wir beide keine E-Mails mochten –
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