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Das Ende der Geschichten (German Edition)

Das Ende der Geschichten (German Edition)

Titel: Das Ende der Geschichten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scarlett Thomas
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ich, weil ich eine psychische Sperre hatte, sie zu beantworten, und Rowan, weil er einfach zu viele davon bekam und Stift und Papier deutlich vorzog. Wir witzelten darüber, dass wir gegenseitig unsere Gedanken lesen konnten, und versuchten jedes Mal zu erraten, was der andere zum Mittagessen bestellen würde. Dann liefen wir uns absurderweise auf einem Flohmarkt in die Arme, der nur an diesem einen Tag in der Halle neben der Bibliothek stattfand und wo wir beide nach einem antiken Füller suchten, den wir dem anderen als Dankeschön schenken wollten. Er hatte immer noch vor, sich bei mir für die Hilfe mit seinen Mails zu bedanken; wofür ich ihm danken wollte, weiß ich gar nicht mehr. Und auf dem Parkplatz vor der Bibliothek parkten wir grundsätzlich nebeneinander. Einmal war tatsächlich keine Lücke neben Rowan frei, und ich kurvte so lange um den Parkplatz herum, bis jemand wegfuhr, weil ich das Muster nicht durchbrechen wollte. Ein paar Tage später kam ich als Erste an, und als ich nachmittags die Bibliothek verließ und sah, dass Rowan seinen Wagen gleich ein paar Reihen weiter geparkt hatte, hätte ich am liebsten losgeheult.
    Als Rowans Büro im Schifffahrtsmuseum fertig war, gingen wir zu unserem letzten gemeinsamen Mittagessen. Auf dem Hinweg hatten wir über die Titanic geredet, und ich hatte aus Thomas Hardys Gedicht Die Zusammenkunft der Zwei zitiert und Rowan meine These auseinandergesetzt, dass es sich dabei nicht nur um ein Gedicht über eine Katastrophe, sondern auch um eine tragische Liebesgeschichte handele. Als ich fertig war, sah er mich an, und sein Blick hielt meinen eine Sekunde länger fest als nötig. Beim Essen erzählte er mir dann, dass er nach dem Buch über die Schiffbrüche etwas ganz anderes schreiben wolle, ein Projekt, für das er mindestens ein Jahr auf den Galapagos-Inseln verbringen müsse, allerdings nicht in der Rolle von Darwin oder jemand Vergleichbarem – einfach nur als er selbst. Ich merkte ihm an, dass er nicht allzu lange in Devon bleiben wollte. Sobald Lises Mutter nicht mehr lebte und Rowan sein Buch beendet hatte, würden sie ihr umgebautes Bootshaus wieder verkaufen und weiterziehen. Wäre ich also der Eisberg und er das Schiff, dann träfen wir niemals zusammen, weil er rechtzeitig den Kurs ändern würde. Ich konnte ihn nicht versenken, und er würde mich auch nicht zerschmettern. Es würde keine Durchdringung der «zwei Hemisphären», wie Hardy es formuliert hatte, geben.
    Wir blieben bis vier Uhr im Lucky’s sitzen und unterhielten uns über Rowans Pläne für Ausstellungen und Tagungen und darüber, wie ich mich eventuell daran beteiligen konnte. Wir lachten viel, weil diese Planungen einer künftigen Zusammenarbeit immer abwegiger wurden. Keiner von uns sprach direkt aus, dass wir uns wiedersehen wollten, doch wir ersonnen zahllose Möglichkeiten, damit es geschehen konnte. Und wieder trafen sich unsere Blicke, diesmal noch länger. Wenn er einatmete, atmete ich aus, und die Moleküle in der Luft zwischen uns wiegten sich in einem wilden Tango, den außer uns beiden keiner sehen oder spüren konnte. Körperlich berührten wir uns nicht; das hatten wir nie getan. Wir gingen zusammen zu unseren Autos zurück – es war, als bewegten wir uns durch ein Kraftfeld. Rowan sagte leise: «Ich gehe sonntagabends oft in Dartmouth spazieren. Vielleicht laufen wir uns ja irgendwann über den Weg.» Und dann, obwohl ich sicher bin, dass wir uns eigentlich nur mit Handschlag oder einem Kuss auf die Wange verabschieden wollten, fassten wir uns plötzlich an den Händen und küssten uns richtig, lang und tief, und strichen einander dabei zärtlich durchs Haar. Später, als ich schweißgebadet und von Panik erfüllt nach Hause fuhr und immer wieder seinen Namen murmelte, wurde mir klar, dass ich seit fast sieben Jahren niemanden mehr so geküsst hatte. Wir hatten keine Telefonnummern ausgetauscht, aber immerhin unsere E-Mail-Adressen. Ich war mir sicher, dass es unweigerlich auf eine Affäre hinauslaufen würde, obwohl ich noch nie eine gehabt hatte. Komplizierte Trennungen hatte ich reichlich hinter mir, aber keine einzige Affäre. Wer, fragte ich mich, würde wohl zuerst mailen? Wer würde den Eisberg geben?
    Keiner, wie sich herausstellte.
    ***

«Wo warst du denn?»
    Ich sah auf die Uhr, die auf dem Ofen stand. Halb acht. Draußen war es dunkel, und drinnen im Haus roch es nach Kälte. Christopher hatte wieder mal die Heizung ausgeschaltet. Kein Essen stand auf dem

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