Das Ende der Liebe
haben, und ziehen daraus Schlüsse. Sie haben Vorlieben. Sie sagen: »Ich nehme nur zu denen Kontakt auf, die dem entsprechen, was ich will.«
Sie denken, dass sie den Gesuchten erkennen würden. Manchmal denken sie es vom Hörensagen, manchmal allein vom Sehen. Wie jeder Suchende, ob ängstlich nach Gefahren oder hoffend nach Ersehntem suchend, spannen sie ihre Sinne an. Sie reduzieren die Bilder: auf Merkmale und Mängel. Sie urteilen schnell und extrem. In Sekunden trennen sie Hoffnung von Enttäuschung. Sie halten sich für Romantiker, sind aber Rationalisten. Sie haben Kriterien. Sie könnten Listen schreiben. So schnell sie hinsehen, sehen sie wieder weg.
Die Menschen sind tatsächlich hoffnungsvoll und ängstlich. Sie suchen nach Merkmalen des Gesuchten so sehr wie nach Merkmalen des Nicht-Gesuchten. Sie bemühen sich sogar noch mehr, als das Gesuchte zu finden, das Nicht-Gesuchte nicht zu finden, es auszuschließen, schon von Ferne, in der »Anfangsphase«. Die freien Menschen sind Meister der prä-amourösen Diagnostik, des frühzeitigen Leidenschaftsabbruchs.
[82] Die freien Menschen leiden an Überempfindlichkeiten. An einer vielfältigen, multiplen Idiosynkrasie. Sie entwickeln die Überempfindlichkeiten nicht erst am Ende der Liebe, sondern am Anfang – vor dem Anfang. Die Gesten und Gesichtsausdrücke des Anderen, die Art, wie er geht, die Art, wie er isst, die Wörter, die er benutzt, die Filme und Musik, die er schätzt, die Kleidung, die er trägt, die Witze, die er macht, ein Leberfleck, die Form der Schulter, einer Brust, eines Zehs, sein Geruch, sein Ton, seine Interessen – alles kann die freien Menschen rasend machen, das Meiste macht sie rasend.
Die freien Menschen sind Allergiker der Sinne: des Sehens, des Hörens, des Riechens und Schmeckens, des guten Geschmacks, des Sinns für Humor. Sie sind Ästheten, frei von Zwecken. Sie haben sich, durch Wiederholung, ein Urteil gebildet. Sie haben Maßstäbe entwickelt. Sie sind einiges – Schönes – gewohnt.
Sie rufen: »Ach! So schön! Das, was ich gesehen habe, hat mich glücklich gemacht.«
Sie sagen: »Ich kann keine Terrakotta-Schwammoptik mehr ertragen.« Sie sagen: »Ich hasse Männer, die Hunde halten und weiße T-Shirts tragen.«
Die freien Menschen könnten aufschreiben, was sie nicht mögen, sie könnten Abneigungslisten anfertigen. Die »Was ich nicht mag«-Liste ist wichtiger als die »Was ich mag«-Liste. Die freien Menschen suchen nach einem Menschen, der keine ihrer Überempfindlichkeiten auslöst. Sie suchen verzweifelt nach dem, der sie nicht rasend macht.
Es gibt ihn nicht.
Die freien Menschen suchen nach der Liebe mittels der Erregung. Sie stellen sich die Liebe als Erregung vor. Sie denken sich das Glück als sexuelles Glück, Erfüllung als Ekstase. Sie wollen den lieben, der sie am meisten erregt.
[83] Wie die Frauen des neunzehnten Jahrhunderts überzeugt waren, dass sie einmal einen Mann lieben würden, der ihren sozialen Aufstieg garantiert, der alle gesellschaftliche Konkurrenz hinter sich lässt, sind die freien Menschen überzeugt, dass sie einmal einen lieben werden, der ihre sexuelle Erregung garantiert, alle sexuelle Konkurrenz hinter sich lässt.
Die freien Menschen lieben . Doch nur noch für Sekunden. Sie lieben nicht auf den ersten, sondern auf den letzten Blick. Sie vergöttern den Passanten, die Passantin. Seit Jahren haben sie nur noch Passanten geliebt. Für keinen, der unbewegt vor ihnen steht, empfinden sie solche Leidenschaft.
Je schneller die Schritte des Passanten, je verschlossener sein Blick – je reiner sein Passantensein – desto größer die Liebe der freien Menschen. Ihre Liebe ist, im Wortsinn, vorübergehend.
Tatsächlich lieben die freien Menschen die Masse, aus der der Passant hervortritt, in der er wieder verschwindet. Die Masse erfüllt sie mit Hoffnung und Erregung. Der Schöne aus der Masse ist die Masse der Schönen. Die freien Menschen breiten die Arme aus. Doch der Passant tut, was er nicht lassen kann. Er geht vorbei.
Voller Hoffnung laufen die freien Menschen dem Passanten hinterher. Sie sind Nachläufer, Nachsteller. Sie verfolgen den Passanten über Straßen und Plätze, durch Geschäfte und Gebäude. Sie halten sein Passieren für Momente auf. Sie behalten ihn im Blick.
Die freien Menschen lieben mit ihrem Blick. Sie lieben die Schönheit.
Schönheit ist das Einzige an einem Menschen, das man wahrnehmen kann, ohne den Angesehenen als Individuum, als begrenzte
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