Das Ende der Liebe
Existenz wahrzunehmen. Der Schöne bleibt, [84] solange die Menschen nur seine Schönheit sehen, ein Bild der Masse. Er ist die Masse. Die Masse wird sichtbar und ersehnbar in der Schönheit. Die Menschen betrachten die Schönheit schluchzend, voller Scham. So stellen sie sich die Liebe vor: einer Schönheit ins Gesicht weinen. »Du! So schön, so schön!«
Die Menschen lieben die Schönen auf den Fotos, in den Zeitungen und Filmen, auf Plakaten. Sie machen keinen Unterschied mehr zwischen Menschen, denen sie begegnen, und Menschen, die sie auf Bildern sehen. Die Menschen sind Bilderliebende, Bilderverehrende. Wenn sie ins Kino gehen, verlieben sie sich immer. Sie denken: Das ist der Erhoffte!
Vielmehr, er wäre es.
Menschen auf Bildern und Passanten haben dies gemeinsam: Sie sind kurz anwesend, dann abwesend. Sie sind kurz nah, dann wieder fern. Sie sind anwesend und abwesend, nah und fern zugleich. Menschen auf Bildern sind Passanten.
Wie oft müssen die freien Menschen erkennen, dass der Schöne im Film, auf Fotos längst nicht mehr schön ist, sondern – tatsächlich – alt und hässlich, tot und begraben. Die Menschen haben ihn verpasst, verfehlt, sind am falschen Ort, zur falschen Zeit geboren. Die Flut der Bilder ist ihr Fluch. Überall geistern sie herum, die Schönen ferner Orte, ferner Zeiten. Die Sehnsucht der Menschen reist um die Welt, durch Jahrzehnte und Jahrhunderte. Ihre Liebe ist Leichenliebe.
So stellen die Menschen sich auch die Jungen schon als Alte vor, die Lebenden als Tote. Das Rinnsal der Zeit hat sich zum schäumenden Strom verwandelt. Der Strom reißt alles mit. Gesichter und Körper der anderen verfallen vor den Augen der Menschen. Sie sehen, wie sie den, den sie halten, schon verlieren an die Zeit. Die Haut zeigt Risse, das Fleisch [85] hängt von den Knochen. Die Haare werden dünn. Der Rücken krümmt sich. Der andere ist ein Passant. Ein Vorübergehender.
Ein Schritt bis zum Alter.
Ein Schritt bis zum Tod.
Immer entfernt der Andere sich schon von den freien Menschen. Immer entfernen die freien Menschen sich schon vom Anderen.
Sie lieben nicht einen, sondern einen anderen. Sie finden nicht einen schön, sondern einen anderen. Immer einen anderen.
Wer ist der Schönste im ganzen Land?
Ein anderer ist es.
Der Nächste ist es.
In einer Welt, in der der Mensch dem Menschen meist als Passant oder Bild begegnet, verlieben die Menschen sich pausenlos. Sie sind ständig umgeben von anwesend Abwesenden, unmöglichen Möglichkeiten, greifbar nahen Unerreichbarkeiten.
Die Menschen existieren pausenlos im Erregungszustand der Liebe. Doch es ist eine Liebe, der der Geliebte fehlt. Der Geliebte fehlt, wird also umso mehr geliebt. Die freien Menschen, die Nichtliebende sind, lieben mehr als jeder Liebende.
Die freien Menschen fragen sich jeden Tag, ob sie ihre Beziehung – so sie eine haben – nicht abbrechen sollten. Sie fragen sich jeden Tag, ob sie ihre Freundschaften nicht abbrechen sollten.
Sie fragen sich auch, ob nicht ihr Partner, ihre Freunde sich nicht gerade fragen, ob sie die Beziehung, die Freundschaft abbrechen sollten.
[86] Sie fragen sich, ob eine andere Beziehung, andere Freundschaften sie nicht mehr erfüllen würden. Sie wissen, dass es so ist.
Ihre Beziehung und ihre Freundschaften sind provisorisch. Sie halten Plätze frei, sind nur ein Anfang. Es sind nicht die Beziehung und die Freundschaften, die die Menschen später haben werden. Die Menschen haben ein Bild von der Beziehung, den Freundschaften der Zukunft. Sie kennen diese Menschen tatsächlich besser als die provisorischen der Gegenwart. Sie vermissen sie. Die Begegnung mit ihnen wird ein Wiedersehen sein. Man wird sich in den Armen liegen nach all den Jahren.
Der Abbruch trifft auch: Eltern, Beschäftigungsverhältnisse, Berufe, Wohnorte, Projekte, Leidenschaften, Sportarten, Gewohnheiten, Enthaltsamkeiten. Der Abbruchsgedanke ist universell. Er ist alltäglich, allgegenwärtig. Dabei ist er stets zwiespältig.
Jede Abbruchshoffnung ist begleitet von furchtbarer Abbruchsangst.
Die freien Menschen erhoffen für sich selbst das Höchste. Der Geliebte, den sie sich erhoffen, soll auf der Höhe ihrer Entwicklung sein, ihre Entwicklung fördern. Eine Hoffnung ist das Vehikel der anderen Hoffnung. Die Menschen wollen die Liebe durch Entwicklung, die Entwicklung durch Liebe erreichen.
Sie sagen: »Menschen, die zusammenleben, müssen gut getimt sein.«
Aus dem Wortschatz der freien Menschen:
Abbruch
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