Das Ende der Liebe
Auswahl zu organisieren und zu inszenieren: vom Internet. Das Internet ist die ideale Technik für die Idee der unbegrenzten Möglichkeiten. Es ist Massenmedium nicht nur, weil es Massen erreicht, sondern vor allem, weil es Massen sichtbar macht, selbst erzeugt. Das Internet vollendet den Übergang von der Epoche der Wahl zur Epoche der Auswahl. Die Suchenden bekommen eine Suchmaschine .
Freizeitindustrie und Nachtleben, Prostitution, Pornografie und die Partnervermittlung, die sich über das Internet organisieren und inszenieren, bilden eine neue Industrie. Diese Industrie ist mehr als eine Unterhaltungs- und Vergnügensindustrie, mehr als eine Sexindustrie. Sie ist eine Industrie der Erotik im umfassenden Sinn, eine Industrie der Liebe und der Partnersuche. Zum ersten Mal in der Geschichte wird das gesamte sogenannte Liebesleben des Menschen industrialisiert. Es wird beschleunigt, automatisiert, rationalisiert, [119] standardisiert. Es werden große Stückzahlen geliefert. Es herrscht Massenproduktion, ein hoher Grad an Technisierung. Produziert wird nicht mehr dort, wo die Menschen leben, sondern an entfernten Orten, in den Industriegebieten der Liebe und der Partnersuche. Zum Beispiel in einer Großraumdiskothek , auf einer Ferieninsel .
Im Nachtleben hat die Unendlichkeit mehrere geschichtliche Voraussetzungen. Die Frauen müssen wie die Männer am Nachtleben teilnehmen; Schwule müssen für Schwule als Schwule erkennbar sein, Lesben für Lesben als Lesben. Die meisten Menschen, die zusammenkommen, müssen sich unbekannt sein.
Das heißt: Es müssen viele Menschen am Nachtleben teilhaben; es müssen viele an einem Ort sein; die Menschen müssen viele Orte zur Auswahl haben, oft den Ort wechseln.
Die Menschen müssen davon ausgehen können, dass ein beliebiger Anderer, den sie im Nachtleben sehen, keinen Partner hat oder trotz einer Partnerschaft offen für etwas Neues ist.
Ein Mann, der sich einer Frau nähert, darf keine Gewalt fürchten von Seiten eines anderen Mannes oder einer Gruppe von Männern.
Die Menschen müssen allein tanzen, nicht mehr in Paaren oder Gruppen.
Die Masse muss sich abwenden von der Bühne, vom Idol, und sich nach innen kehren, hin zu sich selbst. Sie muss sich auflösen in Einzelne, die alle anderen Einzelnen betrachten.
Sexuelle Begegnungen noch in derselben Nacht müssen üblich geworden sein.
Die Menschen müssen davon ausgehen können, alle im Nachtleben anzutreffen, nicht nur die, die man mit dem Nachtleben verbindet. Sie müssen hoffen dürfen, dort einen Partner zu finden.
[120] Im Nachtleben muss die Welt anzutreffen sein, nicht nur Menschen eines Ortes, einer Stadt, die lokale Bevölkerung. Der Ort, an dem das Nachtleben stattfindet, muss selbst global sein, Weltstadt oder (touristisches) Ziel für Menschen aus aller Welt.
Erst wenn alle diese Bedingungen erfüllt sind, wird das Nachtleben zu einer Struktur der Unendlichkeit, die eine unendliche Auswahl von möglichen Partnern organisiert und inszeniert.
Ein Mann sagt: »Immer wieder saß man irgendwo, an irgendeiner Ecke oder Kante, von irgendeiner supersüßen Maus aus München oder sonstwoher umarmt, mit der gemeinsam im Gespräch und in Bewegung – und wenn man aufschaute, eine frische Lunge von Amylnitrit im Hirn, erschüttert und beseelt, die immer noch mehr anderen und schließlich wirklich nicht mehr übersehbar vielen sah … – man konnte nur den Kopf schütteln, man konnte es nicht fassen.«
Ein Mensch ist nun nicht mehr das reizendste Schauspiel , das einer je gesehen hat (wie Lotte es für Werther war), sondern irgendeine supersüße Maus aus München oder sonstwoher. Der Andere wird irgendein Anderer, einer von Vielen. Er tritt nicht mehr aus einer Tür, sondern aus einer Masse heraus. An die Stelle des utopischen Ortes, den der Andere symbolisierte, tritt die Ortlosigkeit, Unendlichkeit der Orte, das Sonstwoher.
Dabei ist die Verführerperspektive keine ausschließlich männliche mehr. Im Nachtleben, das Unendlichkeit organisiert, wird auch in den Augen einer Frau der Andere (ob Mann oder Frau) zur supersüßen Maus aus München oder sonstwoher.
[121] Im Nachtleben selbst werden Zeichen der Unendlichkeit gesetzt, Inszenierungen der Unendlichkeit geschaffen. In der Großraumdiskothek tanzen Tausende von Menschen auf einer Tanzfläche, gibt es mehrere Tanzflächen. Der Blick fällt stets auf eine Masse – und doch ist diese Masse nie alles. Es gibt immer noch andere Räume, andere Massen, die
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