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Das Ende der Liebe

Das Ende der Liebe

Titel: Das Ende der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Hillenkamp
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am Himmel als seltener Komet; der Schauende ersehnte und fürchtete zugleich den plötzlichen Einschlag. Die Zerstörung der eigenen, kleinen, eben noch unerschütterlich geglaubten Welt wurde schlagartig denkbar.
    Ein Mann auf einer Hoteltreppe, eine junge Frau am Strand – sie brachten für einen Moment das Leben ins Wanken. Die Fantasie zauberte ein anderes Leben vor die Augen des Menschen, eine Alternative. Er sah doppelt. Die Wirklichkeit wurde blass und blasser, je mehr die Alternative an Farbe gewann. Plötzlich standen beide gleichrangig nebeneinander, nicht mehr Traum und Wirklichkeit, sondern zwei Möglichkeiten.
    Die Vergangenheit, die die eine Möglichkeit der anderen voraus hatte, die Tatsache, dass der Mensch mit dem Einen bereits ein Leben, mit dem Anderen höchstens eine Zukunft hatte (wenn überhaupt), zählte nicht mehr. Die Zukunft bedeutete jetzt alles. Jede Wahl bedeutete jetzt einen Abschied. Jede Wahl hieß, ein Leben zu verlieren, mit diesem, mit jenem.
    Früher zog der Komet weiter auf seiner Bahn. Der Träumende erkannte, welche ungeheure Entfernung ihn von [114] diesem Himmlischen, dem Himmelskörper trennte, dass seine Möglichkeit in Wahrheit eine Unmöglichkeit war, jede Spontaneität – ein unpassendes, viel zu junges Wort – ganz undenkbar, also: die Scheidung der Ehe, das Verlassen der Kinder.
    Heute ist der Himmel schraffiert von den Schweifen unendlich vieler Kometen. Sie schießen kreuz und quer am Firmament. In der Welt der freien Menschen ist das Erscheinen eines – tatsächlich – Möglichen kein Ereignis mehr. Es geschieht alle Tage, jede Stunde. Auf Hotel- und Rolltreppen, an Ecken und Ampeln, auf dem Weg zur Arbeit. Es ist nicht mehr der Rede wert. Es wird kaum noch erinnert. Das heißt, es wird nicht als einzigartige Chance und Episode erinnert, sondern als Wiederholung, das Übliche.
    Aus dem einzelnen Möglichen sind unendlich viele Mögliche geworden, Unendlichkeit; aus dem einzeln Erscheinenden der Passant .
    Der Passant ist ein Wesen, das sich nur für einen Moment aus der Masse löst und im nächsten wieder in der Masse verschwindet. Die Zeit des Sich-Lösens ist so kurz, dass der Passant in den Augen des Betrachters stets Masse bleibt . Er schwebt über der Masse wie die Gischt über dem Meer. Wie die Gischt noch Meer ist, so ist der Passant für die Menschen noch die Masse, die ihn ausgespieen hat. Er ist alle. Er tritt aus der Masse heraus nur als ihr Symbol – und bevor die Menschen ihn noch für einen Einzelnen halten könnten, ein Individuum, geht er wieder in der Masse auf, taucht unter und vermischt sich. Im Passanten bekommt die Unendlichkeit für Sekunden ein Gesicht, einen Körper.
    Der Passant ist ein Wunder. Die Jungfrau Maria mag auf brachliegenden Feldern, in alten Scheunen erscheinen, die [115] Unendlichkeit erscheint in Einkaufsstraßen und Abflughallen, als Passant.
    Ein Mann sagt: »Ich entdeckte, wieder einmal, eines dieser Gesichter von berückender Schönheit, die man im Vorübergehen auf der Straße sieht, aber nie bei Freunden. Ich fragte mich: ›Woher kommen diese Frauen bloß? Wer heiratet sie? Wer kennt sie?‹«
    Die Antwort: Niemand kennt sie. Niemand heiratet sie. Sie kommen aus der Masse und verschwinden in ihr.
    Angenommen, dieser Blick, der den Passanten hinterher schaut, sei ein ausschließlich männlicher – was wäre dann der weibliche? Er ginge nicht auf das Äußere, sondern auf das Innere. Wäre dieser weibliche Blick also geschützt vor der Unendlichkeit? Nein. Denn die freien Menschen zeigen ja das Innere wie das Äußere. Ihr Inneres ist ein Äußeres. Die Menschen tragen keine Kleider mehr und keine Masken. Auch der weibliche Blick blickt auf einen Boulevard voller Verlockungen. Es sind entblößte Charaktere, Menschen, die Gefühle zeigen. Und der weibliche Blick wendet sich zurück ins eigene Innere: Er erinnert sich. Die Passanten, die er sieht, sind Passanten nicht im Raum, sondern in der Zeit. Es sind alle, denen der Mensch mit dem weiblichen Blick begegnet ist, alle, deren Inneres sich einmal geäußert hat. Ist dieser Blick aber noch ein ausschließlich weiblicher? Nein. Tatsächlich sehen die Männer jetzt auch das Innere, die Frauen auch das Äußere, sehen Männer und Frauen die Passanten im Raum, Passanten in der Zeit.
    Alle Orte der Stadt werden zu Passantenorten, Passagen. Sie verflüssigen sich. Sie werden Bewegung. Städte sind keine Städte, Arbeitsplätze keine Arbeitsplätze mehr. Die Menschen [116]

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