Das Ende der Liebe
Sie kennen die Bilder. Sie haben Fantasie.
Es ist bekannt, wie die Partnersuche im Internet die Unendlichkeit der möglichen Partner organisiert und inszeniert: Die Agenturen für Partnervermittlung vermitteln dem Suchenden heute nicht mehr zwei oder drei mögliche Partner, sondern ein paar Hunderttausend, ein paar Millionen. Die Menschen werden darüber informiert, wie viele Hunderttausend oder Millionen Menschen jetzt online und sofort kontaktierbar sind, wie viele Kontakte pro Stunde augenblicklich zustande [124] kommen, wie viele Tausende von Fotos während der letzten Stunde ins Internet gestellt worden sind.
Die Agenturen gewähren dem Suchenden nun Einblick in ihre gesamte Kartei. Sie verkaufen ihm alle Informationen, die sie haben. Sie haben eine Volkszählung vorgenommen, haben die Bürger im Computer, inklusive privater Fotos und sexueller Vorlieben. Für einen Monatsbeitrag, der dem eines Sportvereins entspricht, kann der Suchende das Volk in Augenschein nehmen, jeden Einzelnen kontaktieren. Die freien Menschen können im ganzen Land suchen, in der ganzen Welt. Jeder kann in dem Land seiner romantischen Projektionen suchen.
Die Masse der Gesuchten ist jetzt also sichtbar geworden – die Masse der Suchenden dagegen unsichtbar. Die Menschen sollen glauben, dass sie allein vor dem endlosen Regal mit möglichen Partnern stehen, nicht daran denken, dass sich gleichzeitig Hunderttausende, Millionen Suchende ebenfalls dort befinden und nach jeder Konserve, jedem Kontakt greifen.
Die Fotos zeigen die Menschen auf Partys, im Urlaub, zu Hause. Die Fotografierten blicken dem Betrachter in die Augen. Sie flirten und nehmen verführerische Posen ein. Doch die Fotos sind auch dann sexualisiert, wenn die Fotografierten keine eindeutigen Posen einnehmen. Denn alle Fotografierten bemühen sich, jede Distanz zum Betrachter aufzuheben – anders als in der traditionellen Porträtfotografie, für die die Menschen sich aufstellten und gesellschaftliche Posen einnahmen. Die Fotografierten im Internet wollen privat erscheinen. Alle Bilder sind Privatbilder.
Früher war der Besitz des privaten Bildes eines anderen Menschen eine Auszeichnung, Besonderheit, Kostbarkeit. Im Internet sind private Bilder dagegen öffentliche Bilder. Für [125] den Betrachter, der die Fotografierten nicht kennt, ist es eine unvermittelte, überwältigende Privatheit, eine schamlose Zusammenhanglosigkeit. Der Abgebildete und der Betrachtende teilen nicht den Zusammenhang einer gemeinsam erlebten Situation, sondern der Abgebildete fällt plötzlich und buchstäblich entkleidet jeder gesellschaftlichen Rolle, wie im Traum, ins Bewusstsein des Betrachtenden. Gelöst aus der wirklichen Situation einer Begegnung – bei der Arbeit, einem Essen bei Freunden – werden die Bilder unmittelbar zum Objekt der Fantasie des Suchenden; eines Menschen, der die Bilder zu Hause, einsam und passiv, durchs Schlüsselloch des Bildschirms betrachtet. Diese Situation ist nun die reale: Der Betrachter, selbst einsam und unbetrachtet, schaut mitten ins Private des Anderen, wird Zeuge eines privaten Augenblicks. So entsteht eine Erotisierung, die der Erotik nicht mehr bedarf. Die Fantasie macht ihre Arbeit.
Während die Suchmaschinen darauf zielen, die Unendlichkeit der Möglichkeiten zu inszenieren, zielen die privaten Fotografien darauf, die absoluten Möglichkeiten zu inszenieren. Die Fotografien sagen: Nichts steht zwischen mir und dir.
Die Partnersuche im Internet löst, was in der Stadt und im Nachtleben passiert, aus Raum und Zeit. Es wird auch jenseits der Städte möglich, zu jeder Zeit. Die Verflüssigung des Raumes, die in der Stadt zu beobachten ist, wird aufs Land getragen. Die Überschreitung der Nacht, die auch das Nachtleben kennzeichnet, ist noch konsequenter. Die Menschen sehen noch mehr andere Menschen, noch schneller hintereinander.
Erstaunlich ist jedoch nicht, was die Partnersuche im Internet ermöglicht. Erstaunlich ist, dass die Partnersuche im Internet tatsächlich nur die großstädtische, verflüssigte Wirklichkeit wiederholt. Die Unendlichkeit existiert auch ohne Internet. Die Menschen sind heute die Möglichkeiten, [126] als die die Fotos sie zeigen. Wer über die Partnersuche im Internet erschrickt, gleicht einem Menschen, der vor einem Bild erschrickt, ohne zu erkennen, dass das Bild ihn selber zeigt. (Der Kaiser im Märchen würde über ein Bild erschrecken, das ihn nackt zeigt, da er doch glaubt, Kleider zu tragen.) Die Partnersuche im
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