Das Ende der Liebe

wissen, dass sie in Bewegung sind, und wenn nicht sie, so genügend andere. Bleiben sie, verschwindet der Ort. Die Bewegung lässt Kulissen zurück. Heimatstädte, in denen keine Heimat mehr ist, Nachbarschaften ohne Nachbarn, Cafés und Kneipen voller Unbekannter. Damit wachsen die Möglichkeiten.
    Was ist ein Ort? Das Amtsgericht ist ein Amtsgericht, weil jeden Tag um die gleiche Zeit die gleichen Menschen sich im gleichen Gebäude versammeln, um das »Amtsgericht« zu sein. Erschienen statt der Beamten andere Menschen mit anderen Absichten, würde das Amtsgericht aufhören zu existieren.
    Auf einer Wiese im Park einer Großstadt sitzen jeden Tag andere Menschen. Einige sind in der Stadt geboren und leben noch dort, die meisten sind zugezogen aus anderen Städten und anderen Ländern (und viele von ihnen werden bald wieder wegziehen). Auf der Wiese sitzen nun gebürtige Berliner, Hamburger, Kölner; Franzosen, Rumänen, Südafrikaner und Brasilianer. Am nächsten Tag sitzen auf der Wiese Bremer, Ingolstädter, Leipziger (aber kein gebürtiger Berliner) sowie Amerikaner, Italiener und Kongolesen.
    An einem Sommertag in einer Großstadt die Wiese eines Parks zu betreten, heißt nun, in die Welt zu ziehen. Die Wiese ist nicht mehr die Wiese, die sie vor hundert Jahren gewesen ist (als das Sitzen auf der Wiese verboten war), sie ist nicht mehr die Wiese, die sie vor fünfzig Jahren gewesen ist (als nur wenige auf der Wiese saßen und die meisten von ihnen in der Stadt geboren waren), und sie ist nicht mehr die Wiese, die sie vor zwanzig Jahren gewesen ist (als fast alle, die auf der Wiese saßen, in Deutschland geboren waren). Die Wiese ist noch immer ein kleines Idyll, mit ihren Platanen und dem künstlichen See in der Mitte. Doch sie wird heute von Menschen durchströmt wie ein internationaler Flughafen. Sie [117] hat, wie zum Schein, ihre klare, rechteckige Form bewahrt, um die noch immer die schmiedeeiserne Einfassung von 1900 läuft. Doch tatsächlich hat die Wiese sich verflüssigt, ist sie Bewegung geworden.
    Wer sich auf die Wiese setzt, reist jetzt, ohne sich zu rühren, um die Welt. Und im Gegensatz zum Flughafen, einem der wenigen Orte, an denen das Ansprechen Unbekannter noch nicht üblich (wenn auch zunehmend wahrscheinlich) geworden ist, fühlen alle Menschen, die sich auf die Wiese setzen, in jedem Augenblick die Begegnungsmöglichkeit. Indem sie die Wiese betreten, treten sie ein in die Unendlichkeit. Aus dem städtischen Rasen wachsen die unbegrenzten Möglichkeiten globaler Partnerwahl empor.
    Was für öffentliche Wiesen gilt, gilt für alle Orte der Großstadt, der Weltstadt. Aus Stammkundschaft wird Laufkundschaft, aus dem Einwohner der Besucher und Passant. Einige passieren die Stadt binnen weniger Tage, andere brauchen zehn Jahre. Man sieht die Bewegung derer, die zehn Jahre brauchen, vielleicht nicht auf Anhieb, wie man die Bewegung der Schnecke nicht auf Anhieb sieht. Die Langsamen scheinen still zu stehen, Einwohner zu sein. Tatsächlich sind auch sie in Bewegung – Besucher, Passanten.
    In der gesamten Stadt herrscht die gleiche Bewegung wie auf der Wiese des Parks. Der vorherrschende Modus ist nicht mehr der des Aufenthalts, sondern der der Passage. Man spürt es an jeder Ecke der Stadt. Man fühlt in jedem Moment den Strömungsdruck, die andauernde Bewegung, wie ein Mensch an den Beinen spürt, dass er nicht in einem See, sondern in einem Fluss steht. Die Menschen umfließen einander, treiben aneinander vorbei; endloser Strom von Menschen, von Möglichkeiten. Die Menschen begegnen im Leben immer mehr Menschen. Der Bekanntenkreis von einst öffnet sich – [118] auch dieser See wird zum Fluss. Alte Bekannte treiben ab, außer Sicht, neue treiben heran.
    Die Gesellschaft hat besondere Strukturen ausgebildet, die die unendliche Auswahl der Partner organisieren und inszenieren. Die Strukturen verwirklichen das Prinzip, das in der Gesellschaft herrscht, im Extrem. Sie machen, was auf Straßen und Wiesen latent vorhanden ist, manifest, zur Hauptsache. Sie tragen es aufs Land, in alle Schichten. Sie wenden die Idee der unbegrenzten Möglichkeiten auf sich selbst an. Sie laufen rund um die Uhr, sind global, kennen keine Grenzen mehr.
    Sie machen Suchende zu Süchtigen.
    Es sind die Freizeitindustrie, besonders das Nachtleben, die Prostitution, die Pornografie und die professionelle Partnervermittlung.
    Sie alle profitieren von einer Metastruktur, deren Wesen und Hauptzweck es ist, unendliche