Das Ende der Liebe
glauben. Das Straßenbild übertrifft jetzt alle Bilder der Werbung, der Kunst. Was die Menschen des achtzehnten, neunzehnten Jahrhunderts den Romanen und Filmen entnahmen, entnehmen die freien Menschen der Realität. Das Sehen wird unendlich, wenn alles Gesehene unendlich und möglich wird.
[111] Die Großstadt war lange ein Ort, wo die Menschen Fremde wahrnahmen, die ihnen fremd bleiben mussten. Das Wesen der Großstadt war die Anonymität. Der Einzelne ging durch die Massen hindurch, als seien diese unsichtbar. Während auf dem Dorf die Begegnung der Menschen unvermeidlich war, war sie in der Großstadt äußerst unwahrscheinlich. Je mehr Menschen an einem Ort waren, umso unwahrscheinlicher war es, dass zwei sich begegneten. Das war das Paradox der Größe.
Jetzt hat die Entwicklung sich verkehrt. Während auch auf dem Dorf die Gemeinschaft in viele Einzelne zerfallen ist, die ihr eigenes Leben leben, kann in der Großstadt aus jedem Fremden in jedem Augenblick ein Vertrauter werden. Unabhängig von Zeit und Ort ist es möglich, dass ein Mensch den anderen anspricht. Diese einfache Tatsache hat alles verändert. Das Wesen der Großstadt ist nun nicht mehr die Anonymität, sondern die allgegenwärtige Möglichkeit der Intimität.
Eine Begegnung ist jederzeit möglich. Die Massen sind nicht mehr unsichtbar. Sie haben Gestalt angenommen. Jeder weiß, dass er hinsehen und angesehen werden kann. Jeder stellt es sich vor. Die Millionenstadt ist plötzlich eine Millionenmöglichkeit.
Aus dem blasierten Großstadtmenschen, der sich auf seinen Wegen durch die Stadt gegen alle Reize abschirmte, ist der erwartungsvolle, dauererregte Mensch geworden, der alle Reize zu verarbeiten versucht, weil er sie für Gelegenheiten hält.
Die alte Agglomeration der Anonymität hatte die Liebe nicht berührt. Die Agglomeration der Intimität untergräbt sie. Die Großstadt findet zu sich selbst. Jahrtausendelang war sie nur die Summe ihrer Teile, bestand aus einzelnen Dörfern, Stämmen, Familien, Paaren und Einsamen, die zueinander nie in Kontakt traten. Nun verschmelzen die einst Isolierten zur Masse, der kritischen Masse der Liebe. Die Teilchen reagieren [112] aufeinander. Die freien Menschen kennen keine Fremden mehr, nur noch Möglichkeiten. Jeder Passant ist für sie eine Chance.
Ein Mann kehrt von einem längeren Aufenthalt im Ausland zurück. Er kehrt zurück in die Stadt, in der er seit zwölf Jahren lebt. Die Frau, die neben ihm am Gepäckband steht, ist ihm schon beim Boarding aufgefallen. Er spricht sie an. Wo sie herkomme? – »Jetzt?«, fragt sie. Ihre Koffer kommen zuerst. Das Gespräch setzt sich fort an der Bushaltestelle, wo sie noch steht, als er aus der Ankunftshalle tritt. Es stellt sich heraus, dass beide im selben Viertel wohnen, sie steigen um in dieselbe U-Bahn. Sie fragt, ob er bei ihr einen Kaffee trinken wolle, bevor er in seine Wohnung geht. Der ältere Herr, der die Frau und den Mann im Treppenhaus begrüßt, fragt: »Wird Ihr Mann jetzt bei Ihnen wohnen?«
Tatsächlich verbringt der Mann, wie man sagt, die Nacht bei der Frau und kehrt erst am nächsten Tag zurück in die eigene Wohnung.
Diese Geschichte handelt eigentlich von etwas anderem. Sie handelt davon, wie der Mann, dem dies passiert ist, die Frauen wahrnimmt. Da er weiß, was passieren kann, nimmt er jede Frau als Möglichkeit wahr, fast so, als besäße er sie bereits. Es will ihm scheinen, als kenne er sie. Er hat Fantasien, wie andere Erinnerungen haben. Genauso deutlich und wirklich. Wenn eine Frau (was vorkommt) unbekümmert ihrer Wege geht, erscheint es ihm, als verlöre er sie, werde von ihr verlassen. Seine Fantasie eilt ihm voraus, vielmehr: die Realität ist seiner Fantasie so oft vorausgeeilt, dass der Unterschied zwischen beiden verschwunden ist. Die Wirklichkeit ist so randvoll mit Möglichkeit, dass sie aus allen Nähten platzt, schon Risse zeigt. Der Mann weiß: Jeden Moment kann das [113] Gefäß bersten, er vom Schwall einer Möglichkeit fortgetragen werden.
Die Geschichte handelt also eigentlich davon, dass einer, der in einer Wirklichkeit lebt, die vom Möglichkeitsdruck schon ganz auseinander getrieben ist, der Wirklichkeit nicht mehr trauen kann. Der Mann sagt: »Soll ich mein Haus unter einem Damm bauen, von dem ich weiß, dass er alle drei Wochen bricht?«
Lange Zeit war das Erscheinen eines Möglichen, den man meinte, lieben zu können, ein Ereignis. Es ließ sich erinnern und erzählen. Der Mögliche zog seine Bahn
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