Das Ende der Liebe
sie dich hintragen, hast du schon den ersten Schritt getan. (…) Es ist unsere Überzeugung, dass die menschliche Kapazität für Sex und Liebe und Intimität wesentlich größer ist, als die meisten Leute glauben – möglicherweise unendlich –, und dass eine Menge befriedigender Kontakte zu haben, es dir einfach möglich [188] macht, eine Menge mehr zu haben. Stell dir vor, wie es wäre, in einer Überfülle von Sex und Liebe zu leben, zu fühlen, dass du von beidem so viel hast, wie du dir nur wünschen kannst, dass du frei bist von allen Gefühlen der Entbehrung und Bedürftigkeit.«
Was die Menschen erregt, ist jetzt mehr, als jeder Andere sein und tun kann. Das Erregende hat sich vom Anderen, vom einzelnen Partner gelöst und ins Unbegrenzte erweitert: ins Vielfache und Fantastische, ins Unendlich-Erhoffte und Unendlich-Erinnerte. Die Menschen sagen: »Ich mag dies, aber auch jenes … Ich liebe alles von … bis … Mich interessieren alle Menschen, die … Ich bin neugierig auf … Ich mag es zu dritt, zu viert, das Durcheinander der Gruppe … Ich bin nicht festgelegt … Ich mag es mal so, mal so … an den verschiedensten Orten … Ich liebe intensive Reize … Dinge für den besonderen Kick … ich brauche Vielseitigkeit … Menschen, die viele Facetten haben … Menschen mit Fantasie …«
Was auf den ersten Blick nach Spezialisierung aussehen mag (»Ich weiß genau, was ich will«) ist in Wahrheit das Gegenteil: eine Verallgemeinerung der Sexualität, ihre Öffnung für alles und jeden. Bereits die Worte (Sex, Partner, lange Haare, gut gebaut) werden zum Einfallstor für die Unendlichkeit. Denn sie benennen, was vielfach existiert: Sex, Partner, Langhaarige, Gutgebaute. Der Liebende dagegen kann den Anderen kaum beschreiben, weil es Wörter, die ausschließlich auf Einen passen, nicht gibt; weil Wörter – außer Namen – notwendig etwas bezeichnen, das auch im Plural existiert. Das Wesen aller Wörter ist Verallgemeinerung: Wer blond sagt, denkt an alle Blonden. Wer Partner sagt, denkt an viele Partner. Wer Sex sagt, denkt an Sex mit Vielen.
Die Amtssprache der Erregung dient der Vervielfältigung. Jeder kann jetzt von allem sprechen, sich alles wünschen. Die [189] Individualisierung der Wünsche ist tatsächlich ihre Vermassung, zielt auf die Masse der Menschen, Masse der Möglichkeiten.
Wie die Liebe sich einst befreit hat von den Zwecken, die ihr übergeordnet waren, hat die Sexualität sich jetzt befreit von der ihr übergeordneten Liebe. Die Menschen wollen ihre – je eigene – Sexualität nicht mehr der Liebe unterordnen. Zwar war die Sexualität nie eins mit der Liebe, doch jetzt bedroht sie sie nicht mehr nur als tierischer Trieb, dreckige Leidenschaft (die es zu verheimlichen oder gewerblich zu befriedigen gilt), sondern als gleichberechtigter Weg zum Glück.
Die Menschen wollen ihre Sexualität entwickeln. Sie sollen es. Sie haben ein Recht auf ihre Sexualität. Sie sagen: »Ich lebe meine Sexualität gern aus.« Sie sagen: »Wegen meiner Beziehung werde ich nicht auf meine Sexualität verzichten.« So wenig die Menschen wegen einer Partnerschaft auf ihre berufliche oder therapeutische Entwicklung verzichten, so wenig verzichten sie nun auf ihre sexuelle Entwicklung. Sie wollen einen lieben, der ihre beruflichen Möglichkeiten verkörpert, wie sie einen lieben wollen, der ihre Sexmöglichkeiten verkörpert. Wenn sie daran scheitern, stornieren sie ihre Leidenschaft.
Wie aber geht die Liebe mit der unbegrenzten, eigenen Sexualität um? Bietet sie eine Alternative? Im Gegenteil: Sie stützt sich mehr denn je auf die Sexualität. Was sich in der Wirklichkeit seit Langem auseinander bewegt, wird im Ideal wieder zusammen gezwungen. Ausgerechnet jetzt, da der Sex sich in nie gekannter Weise von der Liebe unabhängig gemacht hat, macht die Liebe sich in nie gekannter Weise vom Sex abhängig.
[190] Wer lange genug in einem Wartesaal sitzt, vergisst, auf was er gewartet hat. Er fängt an, sich einzurichten. Auch seine Träume spielen nicht mehr jenseits, sondern innerhalb des Wartesaals. Der Wartesaal ist seine Welt geworden, seine Gegenwart. Auch seine Erinnerungen sind, bis auf wenige, entrückte Ausnahmen, Wartesaal-Erinnerungen. So ist es kein Wunder, dass der Wartende sich auch seine Zukunft im Wartesaal denkt.
Sex ist heute der Wartesaal der Liebe. Die freien Menschen haben vergessen, auf was sie gewartet haben, sie haben sich eingerichtet. Sie stellen sich die ersehnte Liebe vor
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