Das Ende der Liebe
Kleider sind eng, ihre Seelen tief dekolletiert; sie erzählen ihrem Gegenüber von ihrem wahren Selbst (und eben das ist ihr Spiel); sie erzählen von ihren Wunden und Zielen, ihrer Gewalt und Zärtlichkeit, von allen Extremen; sie trinken zuviel (also gerade genug); sie wissen auf die Frage »Warum nicht?« keine Antwort mehr; sie sitzen in Zügen, die sich unweigerlich ihren Möglichkeiten nähern, ihren Trink- und Redemöglichkeiten, Kleidungs- und Körpermöglichkeiten, Offenbarungs- und Sexmöglichkeiten; sie wünschen sich zurück; doch sie vermögen nicht mehr, kehrtzumachen, nichts und niemand hält sie auf, kein Zwang, keine Regel, keine Gewohnheit; ihr Leben ist offen, leer, ein weiter, unbekannter (eigener) Raum; in diesem Raum fallen sie auf den Anderen zu, den Fremden, immer schon Nackten; sie haben keine andere Möglichkeit, als ihn sofort zu berühren, alles sofort zu tun.
[181] Die Gespräche, die die freien Menschen führen, sind Gespräche auf dem Weg zum Sex. Das Gespräch wird zu Geschwätz. Es ist nicht unnötig flach, sondern unnötig tief . Empfindsamkeit wird: zur Schau gestellte Empfindsamkeit auf dem Weg zum Sex. Klugheit wird: zur Schau gestellte Klugheit auf dem Weg zum Sex. Trauma wird: zur Schau gestelltes Trauma auf dem Weg zum Sex. Pläne werden: zur Schau gestellte Pläne auf dem Weg zum Sex. Die Menschen werden Litfasssäulen. Sie werden zum Mittel ihrer Zwecke, zu Reklameträgern ihrer Möglichkeiten.
Das geschieht willentlich und überlegt, doch ebenso gegen den Willen der Sprechenden. Jedes Wort hat jetzt eine Brückenfunktion, wird zur Brücke, ob einer will oder nicht. Das Gespräch wird unmöglich. Selbst wenn der Sex nicht herbeigeredet werden muss, sondern beiden als sicher gilt, ist das Gespräch getragen von der Sexaussicht, ist es ein Gespräch zum Sex. Wie das Leben zum Tod hin sich ordnet, ordnet sich das Gespräch zum Sex hin. Wie das Leben in jedem Moment von der Todesmöglichkeit bestimmt wird, so wird das Gespräch in jedem Augenblick von der Sexmöglichkeit bestimmt. Jedes Wort gerät auf die schiefe Bahn, in die Strömung: dort treibt es, wirbelt und schaukelt der Mündung entgegen, dem Sex. Oder auch nur: den Sexfantasien, den Sexmöglichkeiten.
Die freien Menschen verabreden sich zum »Weintrinken und Quatschen«, also zum Sex. Jahre- und jahrzehntelang haben die Menschen sich regelmäßig zum Gespräch, also zum Sex verabredet. Sie haben andere angesprochen und tatsächlich hinausgewollt, hinausgemusst auf den Sex. Sie haben dem Anderen ihren gesamten Entwicklungsroman erzählt, haben sogar berichtet von der Zukunft, doch das wahre Ende der Geschichte, das große Telos und große Finale ist stets der Sex gewesen. Alle Lebensgeschichten der Menschen [182] sind hinausgelaufen und laufen hinaus einzig auf das Jetzt, den Sex. Die große Tour durch alle Zeiten hat immer nur den Augenblick zum Ziel gehabt, alle Worte nur das Schweigen.
Die Idee der Partnerwahl ist nicht nur zur gesellschaftlichen Struktur geworden, sondern auch zu einer körperlichen – in der Sexsucht. Wie die Menschen in Bürgerkriegsgebieten in jedem einen Mörder sehen, weil sie gesehen haben, wie jeder zum Mörder wurde , auch der Nachbar, der Passant, sehen die freien Menschen in jedem eine Sexmöglichkeit, weil sie erfahren haben, dass jeder im nächsten Moment zum Sexualpartner werden kann, auch der Nachbar, auch der Passant. Wie die Menschen in Bürgerkriegsgebieten immerzu terrorisiert werden von ihrer wirklichkeitsgemäßen Gewaltangst , so werden die freien Menschen terrorisiert von ihrer wirklichkeitsgemäßen Sexhoffnung . Das Existieren im öffentlichen Raum ist für sie eine Qual, unerträgliche Gleichzeitigkeit von Erregung und Entsagung, Hoffnung und Enttäuschung.
Und wie die Kriegstraumatisierten auch in Friedenszeiten in allen Menschen Mörder sehen, sehen die freien Menschen noch in den Verheirateten unausgesetzt Sexmöglichkeiten – und tatsächlich, sie haben Recht. Es mag ein Kriegsende geben, aber es gibt kein Ende der Freiheit, zu keiner Zeit, unter keiner Bedingung. Es gibt Räume, in denen ein Waffenstillstand, aber keine Räume, in denen ein Möglichkeitenstillstand herrscht.
Eine Zeitung berichtet: Klaus und Natascha gingen immer wieder fremd. Die Mittvierziger aus Frankfurt sind seit sechzehn Jahren verheiratet. Klaus ist Beamter, Natascha Krankenschwester. »Ich lebe meine Sexualität gern aus«, sagt sie.
[183] Welche Sexualität lebt der Mensch gern aus?
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