Das Ende der Liebe
rufen die freien Menschen »Ich liebe dich!« – nicht mehr im Zustand größter romantischer Erregung. Nicht mehr aufgrund einer gemeinsamen Natur- und Kunst-, also Welterfahrung, deren Voraussetzung die erzwungene Distanz der Liebenden ist, so dass die Liebenden sich nur mittelbar, erfahren können.
Die freien Menschen dagegen vereinigen sich sofort; sie erfahren nichts – als sich selbst, als einander, unmittelbar. Keine Welt, kein Stoff – nichts bleibt zwischen ihnen. Sie kreisen nicht umeinander wie Gestirne nach den Gesetzen von Schwerkraft und Fliehkraft. Sie können keine Welt mehr bilden, kein System aus Kraft und Widerkraft, Gesetz und Widergesetz, sondern im Augenblick der Begegnung rasen sie aufeinander zu und fallen ineinander. Die Unmöglichkeit ihrer Verbindung erfahren sie nicht mehr in der Welt, sondern im Sex.
An die Stelle von Entsagung tritt die Enttäuschung, an die Stelle von Sehnsucht tritt der Ekel. Er ist die Abstoßung dessen, was zu schnell zu nah gekommen ist. Ekel ist das symptomatische Gefühl der freien Menschen – nicht mehr ein [196] Ekel angesichts der Absurdität der Dinge, ihres reinen, bedeutungslosen Seins, sondern Ekel angesichts einer zu großen Nähe; nicht mehr angesichts nur der Fremdheit des Anderen, sondern infolge seines plötzlichen Eindringens ins eigene Selbst.
Die verschiedenen Epochen der Liebe und Nichtliebe unterscheiden sich nach den Instrumenten der Liebessuche. Bis zur Romantik haben die Menschen mit Augen und Ohren gesucht. Sie hatten jemanden – von weitem – gesehen, von jemandem gehört. Sie schwärmten von Menschen aufgrund eines Bildes, eines Gerüchts. In einer Welt der Entfernungen und der Unmöglichkeit (oder denkbar langen Dauer) ihrer Überwindung waren die Menschen angewiesen auf ihre Entfernungssinne.
Später dann, seit der Romantik, suchten die Menschen mittels des Gesprächs. Es war die Zeit der Halbdistanz, der Nähe – doch nicht der Verschmelzung. Die Romantiker schwärmten von jemandem, weil er ein bestimmtes Wort verstanden, ein bestimmtes Wort gesagt hatte (über eine Stadt oder Landschaft, ein Buch oder Lied). Sie liebten mit dem Verstand (ausgerechnet sie, die den Verstand überwinden wollten).
Die freien Menschen schließlich suchen mittels der Geschlechtsorgane. Es ist die Zeit der Implosion aller Abstände, von Raum und Zeit, des Ineinanderstürzens. Die Menschen lieben mit ihrem Nah- und Nächstensinn, der sogar ins Innere des Anderen reicht, vor allem aber ins Innere ihres Selbst. Sie schwärmen von einem Menschen, weil sie selbst sich mit ihm gut fühlen, sie selbst durch ihn erregt werden. Sie sind enttäuscht von einem Anderen, weil sie selbst sich mit ihm nicht gut fühlen, nicht durch ihn erregt werden.
[197] Sie sind dem Anderen jetzt so nah, so im Anderen, der Andere in ihnen, dass sie ihn nicht mehr als ganze Person wahrnehmen können, nur ekelhafte Einzelheiten sehen; dass ihnen nichts bleibt, als in sich selbst hineinzusehen, hineinzuhören.
Und was hören sie dort, was sehen sie? Es sind ihre Erinnerungen, ihre Vergleichsmöglichkeiten. Die Menschen, die jede Entfernung zum Anderen mit einem Mal aufgegeben haben, aufgeben mussten, sie sehen und fühlen nur noch sich selbst. Sie fühlen ihre Vergleichstraurigkeit. Sie ergehen sich in ihren eigenen schöneren Erinnerungen, ihren schöneren Fantasien.
Die Menschen, die mit ihren Geschlechtsorganen nach der Liebe suchen, machen aus allen Eigenschaften sexuelle Eigenschaften . Schönheit soll jetzt erregende Schönheit sein, Tugend erregende Tugend, alle Gespräche erregende Gespräche. Alles soll Mittel sein zum Zweck der Ekstase.
Was bliebe einer Liebe auch, die sich von allen Zwecken befreit hat? Was bleibt einer sogenannten Beziehung, die nicht mehr der Sicherheit dient, nicht mehr der Befreiung von der Familie, nicht mehr der Gründung einer eigenen, nicht der Bewahrung der Vergangenheit und ebenso wenig der Zukunft?
Sex und Gespräch. Die freien Menschen wollen den Anderen im Sex und im (erregenden) Gespräch lieben. Sie sind Sex- und Gesprächsliebende. Vielmehr: Sie lieben nicht – aufgrund ihrer Sex- und Gesprächsenttäuschung. Jahrzehntelang denken die Menschen nicht an eine gemeinsame Welt mit einem Anderen, ein geteiltes Leben, gemeinsame Räume, gemeinsamen Besitz, gemeinsame Kinder – sondern ausschließlich an die Erfüllung ihrer Sehnsucht in Sex und Gespräch. Die Zwanzigjährigen und Dreißigjährigen denken noch nicht an [198] die
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