Das Ende der Privatsphäre: Der Weg in die Überwachungsgesellschaft
verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit im Bundestag gesichert. Wie konnte es so weit kommen?
Die Antwort lässt sich mit einem Stichwort umschreiben: der Kampf gegen »Organisierte Kriminalität (OK)«, der seinerzeit die Diskussion über die innere Sicherheit beherrschte wie kein anderes Thema. OK umschrieb dabei eine eher diffuse Bedrohungslage, das bandenmäßige oder sonst wie organisierte Zusammenwirken von illegal operierenden Straftätern, ihrem halblegalen Umfeld und Helfershelfern in Unternehmen und Behörden. Angesichts dieser unklaren Begriffsbestimmung wurden alle möglichen Kriminalitätsbereiche der OK zugerechnet. Die Protagonisten des Lauschangriffs erwähnten allerdings nicht, dass hierbei nicht nur Straftäter, sondern auch unbescholtene Bürger in das Visier der Fahnder geraten. Der FDP-Politiker Burkhard Hirsch, selbst früher Innenminister von Nordrhein-Westfalen, beschreibt die damalige Stimmung sehr plastisch:
»Vor Einführung des sogenannten ›Großen Lauschangriffs‹ wurde auf das Parlament ein außerordentlicher Druck ausgeübt und der Eindruck erweckt, dass sich die Bundesrepublik Deutschland ohne ihn nicht mehr lange würde halten können. Man hatte den Eindruck, dass sich die Haupttäter von Mafia, Camorra und’Ndrangheta, von den Triaden ganz zu schweigen, die wanzenfreie Bundesrepublik als Ruheraum ausgesucht hätten und sich auf den Bänken rund um die Bonner Hofgartenwiese von ihrem blutigen Handwerk ausruhten.« 28
In diesem Klima blieben die Kritiker in der Minderheit. Mit Zustimmung der Fraktion der CDU/CSU und der Mehrheit der Abgeordneten von SPD und FDP wurde 1998 Artikel 13 des Grundgesetzes so modifiziert, dass nunmehr der »Einsatz technischer Mittel zum Abhören und Aufzeichnen des gesprochenen Wortes in Wohnungen für Zwecke der Strafverfolgung« zugelassen wurde. Der in die Strafprozessordnung eingefügte Straftatenkatalog umfasste mehr als dreißig Tatkomplexe, bei denen offenbar nur die Autoren wussten, weshalb sie alle entsprechend der Festlegung in Artikel 13 des Grundgesetzes als »besonders schwere Straftaten« zu qualifizieren waren. Nach der gesetzlichen Formel war schon der bandenmäßig verübte Fahrraddiebstahl eine Straftat, die einen Großen Lauschangriff hätte rechtfertigen können.
Die Regelungen landeten vor dem Bundesverfassungsgericht. Die Entscheidung, die das oberste deutsche Gericht schließlich am 3. März 2004 fällte, war für die Befürworter des Großen Lauschangriffs ernüchternd. Zwar beanstandete das Gericht mehrheitlich nicht den geänderten Grundgesetzartikel. Nach einhelliger Auffassung des Gerichts waren allerdings die Regelungen der Strafprozessordnung verfassungswidrig, denn – so das Hauptargument – sie enthielten keinen ausreichenden Schutz gegen Eingriffe in den absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung. 29
Im Sommer 2005 wurden die Vorschriften der Strafprozessordnung zur akustischen Wohnraumüberwachung neu gefasst und dabei die wesentlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigt. Die bedeutsamste Aussage des Bundesverfassungsgerichtsurteils scheint allerdings noch nicht vollständig bei allen Verantwortlichen angekommen zu sein: Die Vorgaben des Grundgesetzes müssen bereits in der Gesetzgebung berücksichtigt werden. Es untergräbt das Vertrauen in den Rechtsstaat, wenn weiterhin Gesetze beschlossen werden, bei denen von vornherein erkennbar ist, dass sie den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht genügen. Manche derjenigen, die kritisieren, das Verfassungsgericht maße sich die Rolle eines »Ersatzgesetzgebers« an, vergessen dabei, dass der Gesetzgeber das Gericht selbst in diese Rolle drängt, wenn er die Vorgaben der Verfassung nicht gebührend berücksichtigt.
3.3 Totalverlust Fernmeldegeheimnis? Überwachung der Telekommunikation
Das Fernmeldegeheimnis »darf man getrost als Totalverlust abschreiben, nachdem inzwischen buchstäblich jedes Telefonat abgehört wird, sei es – in geringerem Maße – durch legale Maßnahmen staatlicher Behörden, sei es – umfassend – durch fremde Geheimdienste.« 30
Wir telefonieren heute digital mittels ISDN, laden Fahrpläne aus dem Internet, kommunizieren mobil mit dem Handy und probieren die neuen Dimensionen eines virtuellen »second life« aus. Ein Leben ohne (digitale) Kommunikation ist kaum mehr vorstellbar. Uns ist auch nicht bewusst, dass unsere elektronischen Lebensformen immer lückenloser überwachbar
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