Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
Lieblingsanekdoten meines Bruders, der seine Zuhörer dann normalerweise auch noch mit gespieltem Würgen erfreut.
»Warum hat Mrs. Verver sich denn übergeben?«, fragte ich meine Mutter, die darauf nur seufzte und in ernstem Ton antwortete: »Ich glaube, du verstehst gar nicht, was hier passiert.«
Und ab da hörte ich ihr nicht mehr zu, verschloss meine Ohren vor ihrer Düsterkeit und Schwermut. Es ist fast, als würde sie es genießen, dass es so schrecklich ist, alle scheinen das zu tun. Als ob sie etwas davon hätten, als ob es das Leben ein bisschen aufregender machen würde, bedeutsamer, wirklicher.
Ich würde ihr gern sagen, dass Evie nicht weg ist, und als ich hier bei den Ververs auf dem Sofa sitze, auf dem Sofa, in dessen Ritzen Evie und ich nach Dinnerpartys immer nach verlorenen Vierteldollarstücken gesucht haben, weiß ich, dass Evie hier ist, dass sie uns zusieht, kurz davor ist zu kichern, mit ihrem schiefen Zahn im linken Mundwinkel, von damals, als sie sich bei den Benedicts das Kinn an der Veranda aufgeschlagen hat, weil sie so schnell gerannt ist, um in den Fiberglas-Pool zu springen, ins Wasser zu tauchen und hinunter, hinunter, bis auf den chlorverätzten Grund.
»Lizzie«, sagt Mr. Verver, und ich schrecke aus meiner Erinnerung hoch. »Erinnerst du dich noch an irgendetwas anderes, was an diesem Tag war? Hat sie irgendwas gesagt, war etwas komisch, als du sie das letzte Mal gesehen hast?«
»Ich weiß nicht«, antworte ich, »ich kann mich kaum erinnern. Sie hat gesagt, sie geht nach Hause. Sie war hinter der Hecke, und dann war sie weg.«
Er nickt, als ob das irgendeinen Sinn ergeben würde. Tut es aber nicht. Ich versuche angestrengt, mir alles noch einmal vorzustellen, noch einmal zurückzukehren wie in einen Traum, den man einfach noch einmal träumen kann.
»Sie hat gesagt, wir brauchen sie nicht mitzunehmen. Ich hatte sie gefragt, ob wir sie mitnehmen sollen. Aber sie wollte nicht. Ist das komisch? Kommt mir nicht komisch vor. Jetzt ist es natürlich schon komisch, aber wenn alles wäre wie immer, würde ich es nicht komisch finden, glaube ich.«
Mr. Verver nickt, starrt ins Nichts. »Plötzlich kommt einem alles komisch vor«, sagt er, »nichts ist wie sonst.«
Ich sehe aus dem Fenster, auf der Veranda unterhalten sich die Detectives, einer von ihnen raucht, wie ein Fernsehpolizist. Mir fallen die Zigarettenstummel wieder ein.
Mir ist schwindlig, und ich sage, dass ich kurz auf die Toilette gehe. Ich stehe in dem rosa Badezimmer, sehe in den Spiegel und zähle dreimal bis zehn.
Als ich wiederkomme, macht Mr. Verver gerade Kaffee in der verbeulten alten Kanne, die er immer zum Angeln mitnimmt.
»Die andere ist Dusty heute morgen kaputtgegangen«, sagt er und versucht zu lächeln. »Die Nerven.«
»Vielleicht hat es gar nichts zu sagen«, platze ich heraus.
Er hält inne, das Wasser läuft ihm über die Hand.
»Was?«
»Es ist nur … wahrscheinlich gar nichts«, stottere ich. Seine Miene hellt sich auf, und ich werde ganz aufgeregt.
»Ich weiß«, antwortet er, »aber ›nichts‹ ist in Ordnung. Wirklich. Im Moment wäre ›nichts‹ schon mehr, als wir jetzt haben.«
Wir gehen zusammen in den Garten, und ich hoffe, sie liegen noch da. Mein Herz pocht, und ich habe Angst, die Zigaretten nur geträumt zu haben.
Mr. Verver hat mir die Hand auf die Schulter gelegt, und mein Herz wird ganz schwer.
Es sind nur zwanzig Schritte zu dem knorrigen Birnbaum, aber es kommt mir gerade sehr weit vor. Mit jedem Schritt, jedem Zweig, jedem Dreckklumpen, jedem trockenen Blatt fühle ich einen scharfen Schmerz, wie von den Zinken eines Rechens. Bald renne ich fast.
Mein Blick fällt auf das Weiß, ich sehe sie als Erste, sie sind noch da, nach letzter Nacht, neben einer Baumwurzel in die Erde getreten.
Mr. Verver hockt schon daneben, und es ist kein Traum. Dort sind sie. Er hat die Hände auf den Oberschenkeln, er fasst sie nicht an.
»Hast du die hier gefunden?«
»Nein, Evie. Sie hat sie mir gezeigt. Oder jedenfalls solche. Vor etwa einem Monat.«
Er runzelt die Stirn. In seinem Gesicht passiert alles Mögliche, Überlegungen und Ahnungen.
»Was hat sie dazu gesagt?«
Manchmal, nachts, steht er hier draußen. Das hat Evie gesagt.
»Nichts«, lüge ich. Ich weiß nicht, wieso, aber die Lüge geht mir so leicht über die Lippen, dass es sich richtig anfühlt.
Er steht auf und betrachtet mich, und ich habe das Gefühl, er sieht mir die Lüge an.
Ich weiß es.
Ich starre
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