Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
dem Fahrrad, fahre dort vorbei, im Leerlauf, die Turnschuhe in die Luft gestreckt, ich drehe den Kopf und schaue zu ihm hinein, da ist er, blaues Sakko, strähniges braunes Haar, einen Stift in der Hand, er hält ihn, als wäre er nicht sicher, was das ist oder wie es dahingekommen ist. Und dann ist er weg.
Oder nein, nein, ein anderes Mal, ich gehe vorbei und sehe ihn da stehen, die Arme in die Seiten gestemmt, er schaut aus dem Fenster und spricht unhörbar mit jemandem, sein Mund bewegt sich, aber sein übriges Gesicht nicht.
Oder da, da, drüben auf der, welche Straße ist das, die Huntington? Er wäscht dieses rotbraune Auto in seiner Einfahrt, das Polohemd nassgespritzt, sein Sohn Pete, der in Dustys Klasse ist, wringt einen großen goldenen Schwamm aus, sein Walkmankabel baumelt ihm um den Hals, und Mr. Shaw – nichtssagendes Gesicht, blasse Arme, leichter Schatten auf dem Kinn.
»Ich habe noch nie mit ihm gesprochen«, sage ich den Detectives, »und ich habe Evie auch nie mit ihm sprechen sehen.«
Warum sollte Evie auch mit ihm sprechen? Das kommt mir alles so unwahrscheinlich vor. Als wäre das alles ein riesiges Missverständnis, und Mr. Shaw sitzt irgendwo im Norden stocksteif auf einem Tagungsstuhl und tut, was auch immer Leute auf solchen Tagungen eben tun, und hat keine Ahnung, was für fiese Vorstellungen man sich gerade von ihm macht.
Aber an einer anderen Stelle in meinem Kopf scheine ich etwas zu wissen, oder eine Ahnung zu haben. Der Blick, den ich in Evies Gesicht gesehen habe, tief in ihren Augen. Aber darüber rede ich nicht. Ich erzähle ihnen nichts von Evies Gesicht und was darin zu sehen ist, denn es ist nur eine Vermutung, ein Gefühl, weil ich Evie so innig kenne. Ich kenne sie so gut, dass ich es merke, wenn ich nicht mehr alles über sie weiß.
Als Evie mir die Zigarettenkippen zeigte, hat sie mir etwas Privates gezeigt, etwas Mysteriöses, ein schlüpfriges Geheimnis, wie wir es immer getan haben. Direkt ins Ohr geflüstert, haben wir alles miteinander geteilt. Bis wir es nicht mehr getan haben.
Meine Mutter sagt, ich soll mich an den Küchentisch setzen. Sie hat nach der Scheidung aufgehört zu rauchen, hat angefangen, Aerobic zu machen, und sich Strähnchen färben lassen. Aber jetzt hat sie eine Zigarette in der Hand, aus der Kools-Packung, die immer unter dem Bein eines Liegestuhls auf der Veranda steckt.
»Lizzie, wie gut kennst du Mr. Shaw?«
Komische Art, das zu fragen. Ich sage ihr, dass ich ihn überhaupt nicht kenne, was die Wahrheit ist. Ich kenne ihn so gut, wie ich anderer Leuts Väter eben kenne. Sie sind die Väter.
Sie holt tief Luft und schüttelt den Kopf. »Das ist so schrecklich, ich weiß gar nicht, wie Annie das aushält. Sie alle. Ich habe keine Ahnung.«
»Schon gut, Mom.« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. So spricht sie normalerweise nicht mit mir, und ich habe das Gefühl, wenn ich das Falsche sage, wird sie nur noch nervöser.
Sie sieht die Zigarette in ihrer Hand an und dreht sie herum, als wüsste sie nicht, was das ist.
»Meinst du, er hat ihr was getan?«, frage ich schließlich. Ich glaube, bis zu diesem Moment habe ich den Gedanken noch gar nicht zugelassen.
»Nein«, sagt meine Mutter, richtet sich plötzlich auf, mit entschlossenem Gesicht, und sieht mich an. »Nein, Schatz. Das ist ein Missverständnis. Das ist alles ein wahnsinniges Missverständnis.«
Diese Lüge hat irgendetwas zu bedeuten, ich spüre ihr Gewicht.
Niemand spricht es aus, aber alle scheinen sicher zu sein – warum sollte Mr. Shaw Evie mitnehmen, wenn er sie nicht anrühren wollte, nicht irgendwas mit ihr vorhatte?
Aber niemand spricht es aus, kein Erwachsener bringt die Worte über die Lippen. Und ich kämpfe gegen die Vorstellungen in meinem Kopf an, versuche sie abzuschütteln. Hässliche Dinge, und ich weiß nicht mal, woher sie kommen. Sie sind wie zusammengestückelte Collagen, Fetzen aus nächtlichen Filmen im Privatfernsehen, Schulversammlungen, auf denen die Hände gerungen wurden, lüsterne nachgespielte Szenen in Nachrichtensendungen, dazwischen ein Schnappschuss von Evie im Fußballtrikot, ihr Gesicht ausgeschnitten und auf skandalöse nackte Körper geklebt.
Ich gehe in mein Zimmer, ziehe einen Stapel glitzernder Pferdebücher mit goldenem Rücken hervor und lese stundenlang.
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6.
M r. Shaw. Er ist es. So, wie sie in der Schule darüber reden, wie alle darüber reden, könnte man meinen, es handelt sich um irgendeinen Penner, mit
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