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Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Titel: Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Abbott
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hat, wenn schon, sich immer mehr an Mrs. Verver gehalten. Die beiden seufzten dann gemeinsam darüber, wie lang so ein Fußballspiel dauert, falls eine von ihnen mal hinging, was ungefähr nie war.
    »Lizzie«, sagt sie und legt mir eine Hand auf die Schulter. »Er mag dich. Geh du.«
    Sie sagt das, als wäre er das stotternde Kind in der Schule, oder das mit der Hasenscharte. Komm, sei nett zu ihm. Sieht sie nicht, dass ich unbedingt rübergehen will, damit er mich anstrahlt, so wie sonst? Aber das kann er nicht. Er ist in seinem Entsetzen gefangen. Ich weiß Dinge, insgeheim, aber ich weiß nicht, wie ich dafür sorgen kann, dass er sie auch weiß.
    »Hi.« Ich stehe vor ihm und kratze mir mit einem Zeh das andere Bein.
    »Hi«, sagt er und lächelt beinahe. Er zwingt sich dazu, nur für mich.
    »Mir ist was eingefallen«, sage ich. »Wie Mr. Shaw letzten Sommer hier war. Wissen Sie noch? Er hat mit Ihnen gesprochen. Evie und ich haben Räder geschlagen.«
    Er zuckt zusammen, als ich das sage. Es ist schrecklich, das zu sagen, aber ich mache weiter.
    »Ich erinnere mich an etwas in seiner Hand«, sage ich. »Ich weiß, dass er ein Feuerzeug dabeihatte. Wissen Sie noch?«
    Er kneift die Augen zusammen. »Ich … nein, ich glaube nicht«, sagt er und seine Niedergeschlagenheit haut mich um. »Lizzie, unsere Köpfe machen manchmal komische Sachen. Glaub mir, ich spiele im Kopf alles immer wieder durch, die ganze Zeit. Alles erinnert mich an alles.«
    Die Worte hallen in mir wieder, sie tun mir weh.
    Ich würde ihm gern erzählen, was ich im Durchgang gesehen habe, aber ich weiß, dass es egal ist. Es ist egal, weil mir niemand mehr glaubt.
    Da stehe ich, hilflos und verzweifelt. Ich kann nur noch versuchen, ihm zu zeigen, dass ich es weiß, ich muss dafür sorgen, dass er es auch weiß, oder zumindest ansatzweise.
    »Es ist nicht wahr«, sage ich und kann es selbst kaum glauben, und Mr. Verver sieht mich an, als könnte er es auch nicht glauben. »Was die alte Dame gesehen haben will. Es ist nicht wahr.«
    Er denkt gründlich über seine Worte nach, oder es tut ihm zu weh, als dass er sie sauber und flüssig herausbringen könnte. So oder so möchte ich angesichts seines Blicks am liebsten wie ein Wurm in die Erde sinken und verschwinden.
    »Lizzie«, sagt er und seine Stimme, die sonst sehr tief und ernst ist, zittert ein bisschen, »ich wünschte, ich wüsste überhaupt noch irgendwas.«
    »Mr. Verver«, ich richte mich auf, »die alte Frau irrt sich.«
    Er sieht mich an, als hätte ich, so ganz eventuell, eine Art Geheimwissen. Und das habe ich ja auch.
    »Mr. Verver.« Ich lege meine stummeligen Mädchenhände auf seinen Arm, es fühlt sich an wie Funkenschlag. »Ich weiß es, wirklich.«
    Ich versuche, gewichtig zu gucken, ich zwinge ihn, mir in die Augen zu sehen. Er muss mir glauben, er muss.
    Er sieht mich an.
    Was für ein jämmerlicher Strohhalm – seine Tochter ist nicht ertrunken, sondern wurde von einem Mann entführt, der dreimal so alt ist wie sie, aber es ist immerhin ein Strohhalm. Es ist der einzige Strohhalm, den wir haben, und an den klammern wir uns.
    Es ist nach Mitternacht, ein Uhr, zwei Uhr, ich weiß es nicht, ein Sturm ist aufgezogen, der Wind heult, und von draußen kommt ein Geräusch, das metallische Kratzen des Gartenstuhls auf der Veranda.
    Schlaftrunken und noch voller Albträume stolpere ich aus dem Bett und will rausgehen und den Stuhl reinholen. Ich bin noch nicht klar genug im Kopf, um mich zu fürchten, torkle durchs Haus, der Wind pfeift übers Dach. Fast falle ich die Treppe hinunter und in die Küche.
    Ich bin schon fast an der Verandatür, strecke die Hand nach dem Lamellenvorhang aus, als eine Stimme mich anfährt.
    »Tu das nicht.«
    Ich fahre zusammen.
    Es ist Ted, diese tonlose, raue Stimme, sein düsterer Jungenton. »Nicht«, sagt er, genau so, wie er mir sagt, ich soll meine Stollenschuhe nicht auf die Ledersitze in seinem Auto werfen.
    Ich drehe mich um und sehe ihn, oder jedenfalls seinen blonden Haarschopf, die blassen Streifen seiner langen Ballspielerbeine. Er lehnt an der Küchenarbeitsplatte und sieht, wie immer, dreißig Meter groß aus.
    Ich will ihn fragen, warum, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Ich frage mich, was er wohl gesehen hat. Ich denke an Einbrecher mit schwarzen Strickmützen oder ein Rudel wilder Hunde, die schon nach der Terrassentür schnappen. Was hat er gesehen?
    Und dann denke ich natürlich an Evie.
    Ist hinter mir auch etwas her?

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