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Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Titel: Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Abbott
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Haus, unserem Garten vorbei.
    Evie springt herum, ihre Beine fliegen, das Haar flattert ihr ums Gesicht, ihr Körper ist gespannt, drahtig, in ständiger Bewegung, und Mr. Shaw guckt immer noch, auch, als er schon weg ist.
    War es so? Ich weiß es nicht mehr. Aber so erinnere ich mich daran, und ich kenne Evies Räder, wie sie hindurchschwebt, als würde sie sich durch Sirup bewegen, sanft und träge und süß, so war das. Ich habe immer versucht, es auch so langsam zu machen wie sie, damit die Räder sich länger hinziehen, so liebevoll, aber meine waren immer kurze Wirbel, schnell und angespannt.
    Ihr dunkles Haar ausgebreitet, passend zu ihren Gliedern, sonnengebräunt.
    Das hat er gesehen, und er hat sich verliebt. Wer Evies Räder gesehen hat, musste sich ja in sie verlieben.
    Oh, wie muss ihm das Herz wehgetan haben.
    Später kommt das Bild noch einmal hoch.
    Das Bild kommt zweimal. Alles kommt immer zweimal.
    Mr. Shaw, seine Augen liegen so tief, wie Löcher in seinem Kopf, er hat die Hand auf der offenen Autotür liegen, etwas Eckiges, Silbernes glitzert in seiner baumelnden Hand.
    Ein eckiges, silbernes Feuerzeug glitzert in seiner baumelnden Hand.
    Vielleicht weiß Mrs. Shaw es nicht, vielleicht erinnert Mr. Verver sich nicht. Aber ich, aber ich.
    Er raucht.
    Und jetzt kann ich mir auch vorstellen, wie es ist. Er raucht Parliaments, in seinem Auto, überall in der Stadt, bei Kundengesprächen, auf langen Nachtspaziergängen, wenn er durch die sternenhellen Straßen streunt. Und in ritterlichem Abstand bei den Ververs im Garten steht und sich sehnt.
    Überall außer zu Hause.
    Evie ist nicht auf dem Grund des Sees.
    Das sind seine Zigarettenstummel, die Überreste seines Verlangens und seines Kummers.
    Er hat Evie beobachtet und dabei geraucht und von ihr geträumt, wieder und wieder, erst nur dann und wann, dann jeden Abend, jede einzelne Nacht, bis er es nicht mehr aushielt.
    Ich ducke mich in den Durchgang hinter dem Tri-Country-All-Risk-Büro, und da sehe ich sie, hinter der Regenrinne. Zwei Zigarettenstummel und ein goldumrandetes Stück Plastik von einer Packung. Ich sehe sogar eine Tüte der Apotheke von Green Hollow in dem Drahtgitter-Mülleimer, ein Rezept steckt noch drin. Könnte ja seins sein. Es könnte seins gewesen sein.
    Plötzlich haut es mich um, dass meine Hand in einem Mülleimer steckt und ich mich unerlaubt aus der Schule geschlichen habe, und das während einer strikten Ausgangssperre.
    Es macht mich schwindelig.
    Und ich sehe zur Glastür hinein, in das abgedunkelte Büro und stelle mir Mr. Shaw darin vor, traurig und sehnsüchtig.
    Alle suchen in Sackgassen, keiner glaubt mir, aber ich weiß es. Ich weiß alles.
    Abends zu Hause tagträume ich davon, anonym bei der Polizei anzurufen. »Sehen Sie mal im Durchgang nach!«, würde ich flüstern, wie eine Hexe.
    Meine Mutter plappert in einem fort über die alte Frau und den See und was das bedeutet.
    »Ich habe Annie noch gar nicht gesehen«, sagt sie. »Ich habe versucht, sie anzurufen. Was sagt man denn da? Sagt man, ich bin sicher, das war nicht Evie? Ich meine, ehrlich. Was soll man denn sagen?
    Und er. Oh, das ist so traurig, wie er da in der Einfahrt steht, als hätte er etwas vergessen. Oder jetzt. Hast du gesehen? Er sitzt im Garten, zwischen den Bierflaschen, und wie er in die Bäume guckt! Als würde er denken, vielleicht kommt die kleine Evie gleich zwischen zwei Bäumen hervor in den Garten.
    Und dann hat er nicht mal Dusty zum Trost. Wo ist sie überhaupt? So wie sie sonst an ihm hängt – früher haben wir sie die Schlingpflanze genannt – wo ist sie eigentlich?«
    Für Mum ist es traurig und tragisch. Ihr nächtlicher Besucher war seit Tagen nicht mehr da. Sie und Dr. Aiken können nicht die halbe Nacht schmachtend auf den Liegestühlen auf der Terrasse liegen, wenn Mr. Verver keine sieben Meter entfernt sitzt und sichtbar leidet.
    »Dann geh doch hin und setz dich zu ihm«, sagt Ted, der über der Küchenspüle ein Eis isst. Er schaut durch das Fliegengitter. »Er sieht so einsam aus.«
    Plötzlich mag ich Ted ganz gern. Sonst scheint er nie irgendwas zu bemerken. Aber irgendwie weiß ich auch, dass er sie nur aufzieht, sie anstachelt, wie immer.
    Meine Mutter spitzt die Lippen ein bisschen, und einen Moment lang glaube ich, sie wird es tun, rübergehen und sich um ihn kümmern, wie sie sich um Dr. Aiken kümmert, um sein einsames Ehemännerherz. Aber sie und Mr. Verver reden eigentlich kaum miteinander, meine Mutter

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