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Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)

Titel: Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Megan Abbott
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ist.
    »Na ja«, sagt Kelli, »man springt da rein, wenn man gar nicht wieder auftauchen will.«
    Am liebsten würde ich ihr eine scheuern, kann mich aber gerade noch beherrschen. Tara packt mich an der Schulter, als wüsste sie Bescheid.
    »Aber warum hat die alte Dame sich nicht früher gemeldet?«, frage ich. »Warum meldet sie sich jetzt plötzlich, wo Evie schon seit acht Tagen verschwunden ist?«
    »Sie hat gar nichts davon mitgekriegt. Sie war bei ihrer Enkelin in Greenvale. Dann hat sie Evies Bild in der Zeitung gesehen, und da ist es ihr wieder eingefallen.«
    »Ich glaube das nicht«, sage ich, denn das tue ich nicht. Ich glaube es wegen dem nicht, was ich weiß. Ich glaube es wegen dem nicht, was ich selbst gesehen habe. Ich glaube es nicht, weil es sich von vorne bis hinten falsch anhört.
    Vor allem aber glaube ich es nicht, weil es alles so einfach machen würde. Und ich weiß inzwischen, auf eine tiefe, verzweifelte, die Welt erschütternde Weise, dass nichts mehr einfach ist und es auch nie war.
    In Algebra höre ich Mr. Silverston die Polynome für die Abschlussprüfung wiederholen, aber mein Kopf ist total blockiert.
    Vielleicht sollte ich weinen. Ich sollte darum bitten, nach Hause gehen zu dürfen, wie kann ich weitermachen, wenn Evie vielleicht … vielleicht … und ich denke an Mr. Verver, was muss er denken, fühlen. Evie am sumpfigen Grund des Green Hollow Lake. Der leere Sitz vor mir, sie hat immer die Knöchel unterm Stuhl verschränkt, und ich habe ihr gegen die Füße getreten und sie zum Lachen gebracht, die Gummisohlen unserer Turnschuhe rieben aneinander.
    Es stimmt einfach nicht. Es stimmt nicht.
    Ich weiß, was ich gesehen habe. Ich weiß, was ich fühle. Ich weiß, was ich weiß.
    Ich zwinge mich, an Mr. Shaw zu denken, an Mr. Shaw und Evie. Zuerst kann ich sie mir nicht mal zusammen vorstellen. Sie leben doch gar nicht in derselben Welt. Er war ein Mann im Anzug, im Büro, bei Elternabenden, im kurzärmligen Hemd, frisch gebügelt, abgeklärter Gesichtsausdruck. Aber haben nicht alle Männer, alle Väter, diesen Ausdruck? Wie mein Vater.
    Das weiß ich:
    Mr. Shaw war Mr. Ververs Versicherungsmakler. Auto, Hausrat, Leben.
    All die Gesprächsfetzen und das leise Gemurmel und die überdrehten Spekulationen, als Mr. Shaws Name auftauchte. War er bei den Ververs gewesen, hatte Evie gesehen und sich verliebt, oder hatte er Mr. Verver Versicherungen verkauft, nur, um Evie nahe zu sein, womöglich schon seit Jahren?
    Ich sitze da und balanciere das Kinn gefährlich auf dem Radiergummi am Ende des Bleistifts, schaukle hierhin und dorthin, die Bleistiftspitze rutscht über mein Arbeitsblatt.
    Und wie ich so nachdenke, fällt es mir ein, die eine Sache, die die beiden in einen gemeinsamen Rahmen setzt, in dasselbe sonnendurchflutete Traumbild. Mr. Shaw zusammen mit Mr. Verver im Garten, vor einem Jahr, vor all dem.
    Sie saßen auf Liegestühlen und tranken Bier. Mr. Shaw saß etwas steif da, im Sportsakko, die Aktentasche im kühlen Gras. Ich sah ihn aus dem Fenster im oberen Stockwerk, und mir fiel auf, wie kahl er schon ist, wenn man ihn von oben sieht, viel mehr als nur von vorne oder auf Bildern wie dem in der Zeitung.
    Und dann noch mal, später in dem Sommer.
    Evie und ich sind zwölf.
    Wir tragen unsere blauen Badeanzüge und Shorts im Partnerlook.
    Wir sind barfuß. Wir schlagen Räder und Radwenden, hüpfen herum, lauter dünne Beine überall.
    Mr. Shaw und Mr. Verver kommen die Einfahrt entlang. Mr. Verver winkt uns zu, dann steckt er sich die Finger in den Mund und pfeift.
    Ich lache, ein dummes Zwitschern, und dann halte ich ein und sehe sie an.
    Evie macht einfach weiter, sie schlägt ein Rad nach dem anderen.
    Mr. Shaw, seine Augen liegen so tief, wie Löcher in seinem Kopf, er hat die Hand auf der offenen Autotür, und er beobachtet uns, zusammen mit Mr. Verver.
    Und ich lache immer noch, und Evies Haar breitet sich bei jedem Rad zu einem schwarzen Fächer aus.
    Und Mr. Shaws Schlüssel fällt auf den Boden, und Mr. Verver hebt ihn auf, und Mr. Shaw macht die Autotür weiter auf und lächelt Mr. Verver so komisch an, er hat beim Feierabendbier seine Krawatte gelockert. Das Lächeln ist falsch, er hebt die Mundwinkel, aber es ist kein richtiges Lächeln, er macht es nur mit dem Mund.
    Und er sieht noch einmal zu uns herüber und steigt dann ein, lässt den Motor an und fährt weg.
    Und Mr. Verver winkt, aber ich glaube nicht, dass Mr. Shaw das sieht. Er fährt langsam an unserem

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