Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
berühren kann, das Mädchen, dessen Blick in den Garten wanderte und den Mann dort sah, den Mann, der älter war als ihr Vater, und den sie im Dunkeln schmachten sah wie einen verirrten Ritter, der da unter dem Baum stand und ihr in der ausgestreckten Hand sein Herz hinhielt.
Was dachte sie denn, was passieren würde? Hat sie geglaubt, er würde einfach für immer nur gucken? Und warum hat sie es mir nicht erzählt? Und was hätte ich getan?
Was für ein einsamer Gedanke, ich schiebe ihn beiseite.
In der Nacht schlafe ich mit meiner Beute unter dem Kopfkissen. Den Zigaretten, dem Feuerzeug.
Ich weiß, dass ich etwas damit tun werde. Ich weiß nur noch nicht, was.
Ich denke an Mr. Verver und wie es sein wird, wenn ich den Fluch löse.
Dann wird Evie auch erlöst, stolpernd, flügellahm, aus ihrem Stahlgefängnis.
Das sind meine sonderbaren Nachtgedanken.
Und dann kommt der Traum, und mit ihm Evie:
Im Traum bin ich im Bett und höre ein Geräusch. Ein langsames Kratzen, so leise, dass ich es immer wieder abschüttele. Aber dann wird es schneller, und es scheint gleichzeitig drinnen und draußen zu sein, und ich denke, es ist wie damals, als Dad die Eichhörnchen auf dem Dachboden entdeckt hat und sie ausräuchern musste.
Aber das Kratzen wird immer lauter, wie Krallen auf Metall, und ich gehe durch den Flur, die Arme an die Wände gestreckt, taste mich voran, versuche, dem Geräusch zu folgen.
Und dann bin ich draußen, der Wind weht mir das Nachthemd um die Beine, das Haus ist so dunkel, und es ist so spät, dass meine Füße in den feuchten Boden sinken, und alles sieht blau und gequält aus.
Jetzt kratzt es nicht mehr, das Geräusch ist eher ein Schaben, am liebsten würde ich mir die Ohren zuhalten. Aber dann stößt meine Hand an die Metalltür der Milchklappe, und das Geräusch durchläuft mich wie elektrischer Strom.
Langsam, langsam gehe ich auf die Knie, um hineinschauen zu können, drehe den Griff, öffne die Milchklappe, und anstatt hindurchzusehen in die dunkle Küche und das Rumpeln des Kühlschranks zu hören, sehe ich ins Dunkel. Es ist, als hätte ich die Tür zur Mitte der Erde geöffnet, und es riecht wie lehmiger Tod.
Ich stecke den ganzen Kopf hinein, denn das ist ein Traum, ich bin sicher, dass es ein Traum ist, und ich habe ja nichts zu verlieren, gar nichts.
Ich stecke auch die Hand so tief hinein, wie es geht, und da spüre ich sie.
Ich spüre Evie, bevor ich sie sehe, ich spüre die weiche Haut ihres Unterarms, und dann sehe ich das Weiße in ihren Augen.
Und dann sehe ich ihr Gesicht, und sie sagt etwas.
Ich winde mich, und sie scheint näherzukommen und es ist, als wären wir ganz woanders, und ich weiß nicht, ob ich da je wieder rauskomme, aber ich schiebe mich weiter hinein, und da sind wir, und es ist ihr Gesicht. Und sie sagt etwas.
Evie, Evie, Evie.
Am nächsten Morgen wecken mich die Morgennachrichten.
»Taucher suchen im Green Hollow Lake nach der Leiche des Mädchens, das von mindestens einer Zeugin gesehen wurde und der 13-jährigen Eveline Verver ähnlich sehen soll, die seit über einer Woche vermisst wird …«
Ich liege im Bett und weiß nicht, ob ich es tun kann. Ob ich es fertigbringe. Aber dann denke ich an den Kummer, der in der vergangenen Nacht bei den Ververs geherrscht haben muss, ein Tag und eine Nacht, in denen sie sich vorstellten, wie Evies Körper in den Schlamm am Grund des Hollow Lake sinkt, der Gedanke, dass ihre Leiche von einem Greifhaken heraufgezogen wird, ihr Gesicht schon weggespült. Ist das nicht immer so? Habe ich irgendwo gelesen. Das Wasser nimmt einem das Gesicht. Wenn ich mir vorstelle, was für schreckliche Bilder Mr. Verver in den letzten zwölf Stunden im Kopf gehabt haben muss, halte ich es nicht aus.
Wenn ich es doch weiß. Ich weiß es doch.
Sie liegt nicht auf dem Grund des Sees.
Sie liegt bei ihm.
Also muss ich sie retten, sie alle retten.
»Bist du das, Lizzie?«, fragt Mr. Verver und macht die Fliegentür auf. Er sieht erschöpft aus, erschöpfter denn je. Sein Gesicht. Als wäre sein Gesicht weggespült worden.
»Tut mir leid, Mr. Verver«, sage ich und hüpfe fast von einem Fuß auf den anderen. »Ich warte nur, dass mein Bruder aufwacht. Er soll mir helfen.«
»Wobei denn?«, fragt er, den Morgenkaffee in der Hand. Er zieht die Augenbraue hoch. »Alles okay? Kann ich irgendwas …«
»Ach, nichts.« Ich schüttele den Kopf. »Total blöd. Wirklich blöd.«
Ich zeige auf unser Haus. »Die alte Milchklappe.
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