Das Ende des großen Fressens - · Wie die Nahrungsmittelindustrie Sie zu übermäßigem Essen verleitet - · Was Sie dagegen tun können
allgegenwärtig, dass es die Energiezufuhr für Kinder und Erwachsene kräftig in die Höhe getrieben hat«, meint Susan Johnson von der Universität Colorado.
Auch der Zerfall der traditionellen Esskultur, durch den der Unterschied zwischen Mahlzeiten und Zwischenmahlzeiten zunehmend verschwimmt, fördert den erhöhten Verzehr und damit letztlich konditioniertes Hyperessen. So entsteht ein Teufelskreis, bei dem konditioniertes Überessen die Esskultur weiter sprengt, weil unkontrollierte Esser bei jeder Gelegenheit Nahrung in sich hineinstopfen.
In den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts »aßen die Menschen Mahlzeiten«, stellt die Diätberaterin Meredith Luce fest. [Ref 191] »Die Familie aß gemeinsam.… Zwischenmahlzeiten waren das Vorrecht von Kindern im Wachstumsalter, die für den Körper etwas zusätzlich brauchten. Erwachsene aßen nichts zwischendurch.«
Inzwischen ist Naschen normal und hat in den 80er- und 90er-Jahren nachweislich zugenommen. [Ref 192] Dummerweise schränken wir die Kalorienzufuhr bei den Hauptmahlzeiten nicht entsprechend ein, insbesondere bei unregelmäßigen Zwischenmahlzeiten. Frühstück, Mittagessen oder Abendbrot fallen nicht sparsamer aus, nur weil wir zwischendurch einen Happen zu uns genommen haben.
In vielen anderen Ländern ist das Risiko zu konditioniertem Hyperessen kulturell bedingt weniger hoch. Zahllose Arbeiten, die teils auf Untersuchungen, teils auf reiner Spekulation beruhen, versuchen, das »French Paradox« zu erklären–den Umstand, dass Herzgefäßerkrankungen und Fettsucht in Frankreich seltener auftreten als in Amerika (und Deutschland), obwohl die Franzosen fettreicher essen. Mal heißt es, die Franzosen würden gesündere Fette wählen, mal wird der Rotwein angeführt. Andere Kommentare besagen, dass die Franzosen gesünder sind, weil ihr Leben insgesamt geruhsamer verläuft, oder dass ihr Stoffwechsel möglicherweise genetisch bedingt robuster ist.
Keine dieser Theorien scheint auf sauberen Fakten zu beruhen. Als gesichert gilt jedoch, dass die Franzosen zwar lange bei Tisch sitzen, dabei aber kleinere Portionen verzehren. Und wie wir wissen, fördert die Portionsgröße das konditionierte Hyperessen.
Die Hypothese zur Portionsgröße stützt sich auf mehrere Untersuchungen. [Ref 193] Zunächst verglich man die Portionsgrößen von Restaurants in Paris und Philadelphia und stellte dabei fest, dass amerikanische Portionen um etwa ein Viertel größer ausfallen. Das galt sowohl für Restaurantketten wie Pizza Hut oder Hard Rock Café, als auch für vergleichbare Bistros, Chinarestaurants, Crêperien und Eisdielen beider Länder.
Danach nahmen die Wissenschaftler Restaurantempfehlungen für beide Städte unter die Lupe. Dabei fiel auf, dass große Portionen in Philadelphia viel häufiger hervorgehoben wurden als in Paris. Zudem galten im Führer für Philadelphia All-you-can-eat oder Büfettangebote als besondere Empfehlung, während sie in Paris überhaupt nicht erwähnt wurden.
Zu guter Letzt folgte ein Vergleich zweier französischer und
amerikanischer Standardkochbücher, Joy of Cooking und Je sais cuisiner . Der Trend war durchgängig zu erkennen: Amerikanische Rezepte setzten insgesamt größere Fleisch- und Suppenportionen und geringere Gemüsemengen an.
Ein weiterer Schutzfaktor ist die französische Tradition, zweibis dreimal am Tag zusammen mit anderen eine mehrgängige Mahlzeit einzunehmen, zwischendurch jedoch nichts zu essen. Französische Restaurants bieten auch heute noch häufig nur zu den üblichen Mittags- und Abendstunden warme Küche.
»In Frankreich haben wir nach wie vor eine sehr klare Vorstellung von unseren Mahlzeiten«, berichtet mir France Bellisle, die am Pariser Krankenhaus Hôtel Dieu das Phänomen der Fettsucht erforscht. [Ref 194] »Es gibt also eine kulturell bedingte Übereinkunft, dass zwischen den Mahlzeiten nichts gegessen wird?«, vergewissere ich mich. »Richtig. So etwas tut man nicht. Schon die kleinen Kinder lernen, dass man so etwas einfach nicht macht.«
In ihren Seminaren sagt Bellisle häufig zu ihren Studenten: »Wie, Sie haben sich nichts zu essen mitgebracht? In Amerika hätten Sie jetzt Ihren Kaffee, Ihre Donuts und Ihren Schokoriegel dabei.«
In Frankreich nicht. »Keiner hat auch nur den Bruchteil einer Sekunde daran gedacht, etwas zu essen in den Seminarraum mitzunehmen«, konstatiert sie. »Das haben die Studenten noch nie gemacht und geraten deshalb auch gar nicht in Versuchung. Nirgendwo wird
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