Das Ende des großen Fressens - · Wie die Nahrungsmittelindustrie Sie zu übermäßigem Essen verleitet - · Was Sie dagegen tun können
die Finger und sagt sich: »Das eine kann ich ja ausrupfen, das macht nichts.« Damit hat sie den Kampf um die Selbstbeherrschung im Grunde schon verloren. Um gegen den Drang anzukämpfen, muss sie zunächst verstehen, dass ihre Reaktion automatisch abläuft–und dann begreifen, dass aus dem einen Haar unweigerlich 20 weitere werden. Erst dann ist sie in der Lage, sinnvolle Interventionstechniken zu erlernen und anzuwenden.
Eine wirksame Abwehrmaßnahme lenkt uns von der konditionierenden Macht eines Reizes ab, bevor dieser die übliche Reaktion auslösen kann. Wir erinnern uns daran, dass es möglich ist, Nein zu sagen. Das Eingreifen beginnt mit dem Wissen, dass uns ein–kurzer–Moment der Entscheidung bleibt, in dem wir erkennen, was gleich passieren wird, und stattdessen etwas anderes tun können.
Ein Eckpfeiler der Behandlung konditionierten Hyperessens ist die Entwicklung der Fähigkeit, der Einladung des Hinweisreizes von vornherein zu widerstehen. Dieser Widerstand muss frühzeitig und entschlossen einsetzen. »Selbststeuerung ist nur ganz zu Anfang möglich, wenn die Einladung gerade erst ausgesprochen
ist«, bekräftigt Leckman. An diesem Punkt sind wir noch in der Lage, uns von dem Reiz abzuwenden. Sobald wir ihm erliegen, wird eine Kaskade aus Reiz, Reaktion und weiteren Reizen in Gang gesetzt, die das Verhalten antreibt.
Leider macht erfolgreiches Neinsagen uns nicht weniger empfänglich für die Reize. Die alten Reaktionen lassen sich nie vollkommen verlernen. »Die alte Gewohnheit bleibt erhalten«, bedauert Mark Bouton, Psychologieprofessor an der Universität Vermont. [Ref 199] Bouton erforscht den Zusammenhang zwischen Kontext, Konditionierung und Gedächtnis [Ref 200] und hat mit seinen Arbeiten zu aktuellen Auffassungen, wie Menschen ihr Verhalten verändern können, beigetragen. »Wir können etwas Neues lernen, aber das bedeutet nicht unbedingt, dass wir damit das Alte los sind.«
Weil die früheren Assoziationen erhalten bleiben, dringen sie im passenden Zusammenhang nur allzu leicht wieder an die Oberfläche. Tierversuche bestätigen solche Reaktionen. Zum Beispiel lernten Ratten, sich vor einem Ton zu fürchten, indem sie jedes Mal, wenn sie ihn hörten, einen Elektroschock erhielten. Die Angst ließ nach, wenn der Ton später ohne Schock wiederholt wurde, aber die Verbindung wurde nicht vollständig »verlernt« und ließ sich unter den entsprechenden Bedingungen leicht wieder reaktivieren.
Bei einer positiven emotionalen Reaktion auf einen Reiz gilt dasselbe Prinzip. Eine einmal etablierte Verbindung zwischen Hinweisreiz und Gedächtnis lässt sich nie wieder vollständig kappen. Selbst wer das Rauchen schon vor Jahrzehnten aufgegeben hat, verspürt zu gewissen Zeiten noch das Verlangen nach einer Zigarette. Die Zigarette bleibt ein »heißer« Reiz, der eine Belohnung verheißt.
Trotz dieses Vermächtnisses ist Umlernen möglich und kann uns sehr häufig davor bewahren, unserem Verlangen nachzugeben. Wir können neue Verhaltensweisen und eine andere Denkweise einüben, mit der wir die alte in Schach halten. Irgendwann wird dieses Verhalten so selbstverständlich wie die früheren Reaktionen. Ab diesem Moment kühlt der Reiz ab.
Ein denkbarer Ansatz zur Überwindung des konditionierten Hyperessens wäre folglich das Meiden kritischer Situationen, doch in einer modernen Umgebung, wo ständig Essbares präsent ist, reicht das nicht aus. Es ist schlichtweg unmöglich, dem Dauerfeuer der Hinweise auf geschmacksoptimierte Lebensmittel immer zu widerstehen. Um das Problem zu meistern, brauchen wir weitere Möglichkeiten, unser Verhalten zu durchschauen und zu steuern. Diese Techniken müssen wir lernen und voller Entschlossenheit üben, bis wir unsere Reaktionen auf diese Reize verändern können.
32 | Die Macht der Gewohnheit umkehren
Um die Einladung eines Hinweisreizes an das Gehirn auszuschlagen, müssen wir lange eingeübte Gewohnheiten umkehren. [Ref 201] Zu Beginn müssen wir unser Handeln sorgfältig kontrollieren. Langfristig jedoch ersetzen wir eine Serie von Automatismen durch eine andere. Raymond Miltenberger drückt das so aus: Die neue Reaktion muss »so gut eingebettet und so fester Bestandteil des Verhaltensrepertoires werden, dass Sie in Zukunft an leckeren Dingen vorbeigehen können und dabei sagen: ›Mensch, riecht das gut. Aber das brauche ich gerade nicht.‹« Und dann gehen Sie einfach weiter.
Das erfordert wiederholtes Üben und eine ausreichend große
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