Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
mir, „dass er ihm die Reste seines Essens gab“. Essen war unglaublich wichtig. Wenn der Graf mit seinem Hühnchen fertig war, kriegte mein Großvater die Reste, und diese Tatsache wurde in der Familie als Beispiel für die Großzügigkeit des Grafen und das Prestige des Großvaters erzählt. Mich ärgerte das … ich war damals schon Anarchist.
FOLCO: Damals schon?
TIZIANO: Vielleicht wird man so geboren, vielleicht ist das etwas Genetisches. Ich bin immer ein Anarchist gewesen. Wenn ich einen Polizisten in Uniform sah, verspürte ich spontan Lust, ihm in den Hintern zu treten. Macht ist stets etwas Fremdes für mich gewesen. Ich war dagegen regelrecht allergisch.
FOLCO: Komisch. Schließlich waren deine Eltern ja nicht gerade Rebellen.
TIZIANO: Nein. Aber Großmutter Elisa und ihr Bruder Torello, die waren schon ziemlich verrückt. Sie waren Bauern, fühlten sich aber wie Herrschaften und fuhren in einem Pferdewagen herum. Sie waren anders als meine Eltern, und wir sahen sie ziemlich oft, weil sie uns besuchen kamen. Da es sonst keine Freizeitbeschäftigungen gab, besuchte man sich sonntags gegenseitig. Hauptsache man aß nicht bei den anderen! Man durfte erst ankommen, wenn sie mit dem Essen fertig waren, und boten sie mir etwas an - und ich hatte einen Heißhunger auf Schokolade oder Kekse! -, musste ich mindestens vier, fünf Mal „nein danke“sagen.
So bin ich erzogen worden. Und wenn ich mich innerlich noch so dagegen auflehnte, da war nichts zu machen! Einmal habe ich mir eine Ohrfeige eingehandelt, weil die Schwester meiner Großmutter Elisa, die ganz vernarrt in mich war, mir zur Begrüßung mal wieder einen ihrer schlabberigen Küsse gab und ich mir sofort die Wange abwischte. Meine Eltern schämten sich dafür. Um es kurz zu machen: Ich hatte mit dieser Familie nicht viel gemein.
FOLCO: Du hattest das Gefühl, nicht dazuzugehören?
TIZIANO: Ja. Und von Anfang an begriffen alle, dass ich von einer anderen Art war. Ich war einfach vollkommen anders. Ich erinnere mich noch genau an die fiesen Anspielungen meines Onkels Vannetto: „Na, ob der wirklich der Sohn seines Vaters ist?“Natürlich sollte das ein Witz sein, aber man sah eben, dass ich nicht dazugehörte. Ihre Welt war nicht die meine, und ich habe immer das Bedürfnis verspürt auszureißen.
Alle gingen davon aus, dass ich nach der Grundschule bei meinem Vater in der Autowerkstatt arbeiten würde. Das war damals so üblich. Als Hilfskraft fingst du damit an, das Öl zu filtern, später durftest du dann Teile zusammensetzen. Und nach und nach wurdest du ein Autoschlosser. Bei mir zu Hause hieß es immer: „Wenn du mit der Schule fertig bist, hilfst du dem Papa.“Auch mein Vater wollte das, so war das damals eben.
Ich aber hatte anderes im Kopf.
Oft litt ich an einem heftigen Husten mit Erstickungsanfällen, dann wurde ich zu einem Brunnen gebracht, an dem der Legende nach Franz von Assisi vorbeigekommen war und auf dessen Grund angeblich eine Sandale von ihm lag. Deswegen war das Wasser geweiht, und meine Mutter ließ mich davon trinken, weil sie meinte, das würde mir gut tun. Hinterher gingen wir die Straße nach Bellosguardo hinauf. Stell dir vor, aus den beiden winzigen Zimmern in Monticelli zur Torre di Montauto zu kommen, zur Villa dell’Ombrellino, zur Torre di Bellosguardo! Was war das für eine andere Welt! Und ich hatte das Gefühl, es sei die meine. Da wollte ich eines Tages hinkommen! Ich betrachtete die herrlichen Villen und fragte mich: „Wer wohnt bloß an einem so wunderschönen Ort?“Und meine Mutter sagte: „Da wohnt ein deutscher Maler, und dort ein englischer Bildhauer“, sie wusste das, die Frauen erzählten sich so etwas. Der Gedanke, dass all diese Häuser Ausländern gehörten, hat mich dazu gebracht, selbst ein Ausländer zu werden, damit ich es mir leisten konnte, zurückzukehren und in einem solchen Haus zu wohnen. Nein, nein, das ist natürlich ein Witz, aber irgendwie …
So habe ich die ersten Jahre verlebt. Ohne große Traumata, ohne große Emotionen. Die Grundschule von Monticelli lag nur ein paar Häuser weiter, doch immer, wenn ich aus der Schule kam, stand meine Mutter da und wartete auf mich. Ich durfte noch nicht einmal allein nach Hause gehen, hin und zurück führte sie mich immer an ihrer Hand. Ein paar meiner Kameraden dagegen, wie Bombolino - meine Herren! Kaum waren sie aus der Schule, gingen sie mit dem Lineal aufeinander los. Und wenn sie an mir vorbeikamen - zack! - gab es einen
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