Das Ende ist mein Anfang - Ein Vater ein Sohn und die grosse Reise des Lebens
Schlag auf den Kopf. Und ich konnte mich nicht einmal wehren, weil meine Mutter mich festhielt.
Er lacht.
FOLCO: Und deswegen hast du immer gelernt? Weil du nicht spielen durftest?
TIZIANO: Gelernt habe ich, aber so viel nun auch wieder nicht.
Trotzdem war ich gut, immer der Klassenbeste. Das waren alles Arbeiterkinder, weißt du.
FOLCO: War deinen Eltern das Lernen wichtig? Haben sie dich angetrieben?
TIZIANO: Meiner Mutter war es wichtig, meinem Vater weniger. Er meinte, ich müsste danach ja sowieso arbeiten gehen. Aber es war gar nicht nötig, mich anzutreiben, ich lernte von selbst, damit identifizierte ich mich. Und es gefiel mir, Klassenbester zu sein, da bekam man eine Art Schleife zum Anstecken. Die Schulpflicht endete mit der fünften Grundschulklasse, und dann ab ins Arbeitsleben! Mein großes Glück war, dass mein letzter Klassenlehrer zu meinen Eltern sagte: „Der muss noch weiterlernen, lassen Sie ihn wenigstens noch die Mittelschule machen!“
Die Mittelschule war der erste Schritt in die Freiheit, denn sie lag an der Santa-Trinita-Brücke. Ich stieg in die Straßenbahn, die vor unserem Haus vorbeikam, endlich allein, da meine Mutter es sich nicht leisten konnte, mich zu begleiten, und schmeckte die ersten drei Jahre Freiheit. Endlich begann ich, Freundschaften zu schließen. Ich lernte Baroni kennen, Sohn eines Zahnarztes und Neffe eines Priesters, von dem er später eine schöne Bibliothek geerbt hat …
FOLCO: Ach genau, die Bücher!
TIZIANO: Denk nur, Folco, mein Verhältnis zu Büchern. Bei uns zu Hause hat es nie ein Buch gegeben, nie! Wir hatten keine! Aber mein Onkel Gusmano, ein Bruder meines Vaters, war Buchbinder. Und um sich etwas dazuzuverdienen, arbeitete er abends schwarz zu Hause für wohlhabende Leute, vor allem Ärzte. Dort habe ich die ersten Bücher meines Lebens in der Hand gehabt, eine in Heften erschienene Geschichte Italiens, wunderschön, mit lauter bunten Bildern: Mucius Scaevola, wie er die Hand aufs Feuer legt, der ermordete Julius Cäsar, Nero, der Rom in Brand steckt. Diese Hefte habe ich heimlich verschlungen, mein Onkel gab sie mir, bevor er sie zu Büchern band und mit einem schönen Lederdeckel versah. War das aufregend! Damals ist mein Bücherfetischismus entstanden. Sieh dich nur um, wie viele Bücher es heute in unserem Haus gibt!
Zur Mittelschule zu gehen, hieß für mich, endlich frei zu sein und erwachsen zu werden. Die Straßenbahn verband mich mit der Welt, ich fuhr nach Florenz! Ich befreundete mich mit Jungen aus einer anderen Schicht. Unglaublich, die Bibliothek von Baronis Onkel! Oft machten wir Schularbeiten bei ihm, und manchmal nahm ich mir heimlich ein Buch mit, um es zu Hause zu lesen. Diese wunderschönen Bücher, weißt du, mit Ledereinband und Goldschrift. Ich, Gambuti und noch zwei andere ließen so oft Bücher mitgehen, dass der Onkel uns schließlich jedes Mal durchsuchte, bevor wir sein Haus verließen!
Im letzten Jahr der Mittelschule, als ich vierzehn war, hat dann Cremasco eine entscheidende Rolle gespielt.
FOLCO: Cremasco? War das ein Lehrer?
TIZIANO: Ja, mein Italienischlehrer. Ich schrieb Aufsätze, über die er heute sagt: „Ich habe damals schon gesehen, dass in dir ein Schriftsteller steckt!“Er ist inzwischen sechsundneunzig und schreibt mir noch manchmal, gerade kürzlich habe ich ihm Noch eine Runde auf dem Karussell geschickt mit der Widmung: „Ohne Sie hätte ich dieses Buch nie geschrieben.“Ihm verdanke ich alles, denn er ließ meine Eltern zu sich kommen ! Kannst du dir das vorstellen? Meine Mutter und mein Vater, die zum Lehrer in die Machiavelli-Schule bestellt werden, in diesen wunderschönen Bau neben der Santa-Trinita-Brücke, und gesagt bekommen: „Ich fürchte, Sie müssen noch einige Opfer bringen: Dieser Junge gehört einfach aufs Gymnasium!“
FOLCO: Was ich nicht verstehe, ist, woher du dieses enorme Interesse für die Schule hattest. Das gab es doch sonst bei keinem aus der Familie. Meinst du, so etwas ist angeboren?
TIZIANO: Vielleicht hatte ja mein Onkel recht und ich war gar nicht der Sohn meines Vaters. Aber wir sind ja auch nicht alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Jeder Mensch hat seine eigene Welt, und meine war eben diese. Damals begannen wir, die Ilias zu lesen, Homer. Ich war begeistert.
Meine Eltern rangen sich dazu durch, mich aufs Gymnasium zu schicken. Und dann kam diese Geschichte mit den ersten langen Hosen, die auf Raten gekauft wurden. Wir gingen zum Kurzwarenhändler, er
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