Das Ende
Ratte erschienen war.
Rattus rattus . Niemand wusste genau, wie viele der Nagetiere den Big Apple bevölkerten, die Schätzungen reichten von 250 000 bis zu über sieben Millionen. Ratten sind flinke Geschöpfe; eine Ratte kann auf den Hinterbeinen balancieren, Leitern hochklettern, einen Meter gerade in die Luft springen oder eine steile Mauer hochhuschen. Sie kann sich durch ein Loch so eng wie ein Vierteldollar hindurchzwängen, einen Sturz aus achtzehn Metern Höhe überleben oder ein Abflussrohr bis direkt in die Toilette hochschwimmen. Obwohl nachtaktiv, kann eine Ratte sowohl tagsüber als auch nachts jagen. Der Name »Ratte« lässt sich übersetzen mit »nagendes Tier«, und das aus gutem Grund: Zähne und
Kiefer sind so kräftig, dass eine Ratte sich durch Ziegelsteine und Mörtel, ja selbst durch Stahlbeton hindurchbeißen kann.
Das Leben einer Ratte währt zwei bis drei Jahre und besteht größtenteils aus Fressen und Sich-Vermehren. Weibchen haben vom dritten Lebensmonat an im Schnitt mehr als zwanzig Geschlechtsakte pro Tag. Würfe bestehen aus sechs bis zwölf Jungen, und ein einziges Weibchen wirft in seinem Leben vier-bis sechsmal. Männliche Ratten paaren sich nicht selten so lange mit einem Weibchen, bis es vor Erschöpfung stirbt – und machen noch weiter, wenn das Weibchen schon lange verendet ist.
Als intelligente Tiere gedeihen Ratten bei den endlosen Abfallbanketten der Großstadt prächtig, und ihr Geruchssinn kann Nahrung an jedem Ort innerhalb ihres Territoriums aufspüren. New Yorks Rattenpopulation hatte die Furcht vor dem Menschen längst verloren, und der beißende Geruch, der aus dem Innern des Müllcontainers kam, war verlockend.
Morningside Heights, Manhattan, New York
9:38 Uhr
Einen Stapel Suppenteller auf ihrem sich wölbenden Unterleib balancierend, trat Francesca Minos aus Minos’ Pizzeria . Da ihr erstes Kind nun schon eine Woche überfällig war, wäre die Fünfundzwanzigjährige angesichts ihrer geschwollenen Füße lieber auf Kissen gestützt im Bett liegen geblieben, als in Trainingsanzug und Mantel einen weiteren kühlen New Yorker Morgen zu begrüßen – aber Paolo hatte in zwei Jahren nicht einen einzigen Frühstückshungrigen
enttäuscht, und, schwanger oder nicht, sie musste ihrem Mann helfen.
Sie langte in den dampfenden Aluminiumtopf, schnappte sich eine hölzerne Kelle und schaufelte einen Klumpen Haferbrei auf einen Wegwerfteller, den sie für den Nächsten in der Schlange auf dem Tisch ließ. Schon erstreckte sich die morgendliche Versammlung die Amsterdam Avenue hinunter, und weitere Obdachlose waren unterwegs; ihr engagierter Seelengefährte war entschlossen, jedem einzelnen von ihnen zu essen zu geben.
Ein Aufgebot leerer Blicke und ausdrucksloser Gesichter marschierte schweigend an ihr vorbei. Die vergessenen Seelen der Gesellschaft. Hatte die Versuchung sie vom rechten Weg abgebracht, oder hatten sie schlicht aufgegeben? Viele waren fraglos Drogenabhängige oder Alkoholiker, aber andere waren in finanzielle Schwierigkeiten geraten und hatten einfach keinen anderen Platz, wo sie hingehen konnten. Mindestens dreißig Prozent waren Veteranen des Irakkrieges, die Hälfte von ihnen behindert.
Francesca füllte einen weiteren Teller, und ihre Angst verwandelte sich in Zorn. Allein in New York City gab es fast hunderttausend Obdachlose. So leid sie ihr auch taten, sorgte sich Francesca doch mehr um ihre eigene Familie. Die Pizzeria lief nur mäßig, wie die meisten Geschäfte, und auch sie hätten bald ein weiteres hungriges Maul zu stopfen. Wussten die Obdachlosen die kostenlose Mahlzeit, die sie erhielten, überhaupt zu schätzen? Oder nahmen sie die Großzügigkeit von Fremden einfach als Teil ihres täglichen Rituals in Anspruch? Mit jedem Tag, der verging, wurde die Linie, welche die Familie Minos von ihren verarmten Brüdern trennte, dünner – was würde passieren, wenn sie am Ende gezwungen wären, ihre Wohltätigkeit zu beenden? Würden die
Obdachlosen Verständnis dafür haben? Würden sie ihren Gastgebern für ihre frühere Großzügigkeit danken und ihnen alles Gute wünschen, oder würden sie gewalttätig werden, die Scheiben der Pizzeria einschlagen und verlangen, was ihnen vermeintlich zustand?
Dieser Gedanke ließ Francesca erschauern.
Als sein Behälter leer war, wischte sich Paolo die Handflächen an seiner mit Haferbrei bespritzten Kochschürze ab, bevor er wieder hineinging, um noch einmal nachzufüllen.
»Paolo – warte.«
Der
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