Das Engelsgrab
ganz, denn so starr wirkten die Engel nicht.
Sie besaßen eine bestimmte Körperform und glichen tatsächlich den Menschen. Nur sehr weiß, sehr hell und auch strahlend. Dieses Strahlen breiteten sich zu allen Seiten hin aus, so dass es nicht nur über die Gräber floss, sondern auch zurück bis an das Gebüsch, das deshalb aussah, als wäre es mit Mehl überpudert worden. Claudine ließ sich Zeit, um dieses wundersame Bild einfach zu genießen. Sie war in sich selbst versunken, wobei das Gefühl der Sicherheit noch immer zunahm.
So beschützt hatte sie sich nie noch gefühlt. Das Verlangen, über die Gräber auf die Lichtwesen zuzugehen, stieg in ihr an. Es hätte ihr nichts ausgemacht, sich in ihren Kreis einzureihen, ob nun als Mensch oder als Engel.
Sie streckte die Hände aus. Sie wollte ihnen zeigen, wie gut sie sich fühlte. Ihre Freunde mussten einfach an ihrem Glück teilhaben.
Gesichter sah sie nicht. Zwar waren sie vorhanden, aber sie verschwanden hinter dem Licht, das alles bedeckte. Weder Augen, Nasen noch Münder malten sich ab, das Licht war einfach zu stark, und es schwächte sich nicht ab.
Claudine dachte an all die zahlreichen Fürbitten, die sie in ihrem Leben an die Engel gerichtet hatte. Auch jetzt wollte sie mit ihnen kommunizieren, aber es fehlten ihr einfach die passenden Worte. Ihr Gehirn war blockiert. Sie kam nicht mehr zurecht. Die Gedanken wirbelten, das Erscheinen dieser Pracht hatte sie sprachlos werden lassen.
Es blieb ihr nichts anderes übrig, als das gute Gefühl zu genießen.
Diesen Tag würde sie niemals vergessen, denn ab heute wusste sie, dass die Engel tatsächlich existierten. Davon ausgegangen war sie schon immer, und sie wusste auch, dass die Engel sie akzeptiert hatten. Das Licht hätte sie eigentlich blenden müssen, doch dieser Vorgang war nicht eingetreten. Es strahlte und war weich zugleich, so dass es sie wie ein Schutz umhüllte.
Bis sich alles änderte!
Auf einmal spürte Claudine die Angst der Engel. Ihre Sicherheit hatten sie schlagartig verloren, und es war auch zu spüren, wie ein erster Strom des Unbehagens gegen Claudine Lanson floss, den die Engel abgegeben hatten.
Sie fühlten sich gestört. Sie waren vielleicht auch verstört. Sie wussten nicht, wohin sie sich wenden sollten, denn sie spürten genau, dass sich ihnen etwas näherte. Gefahr…?
Noch sah Claudine nichts, aber dieses kalte Gefühl blieb bestehen.
Schweiß brach aus ihren Poren. Die Helligkeit der Engel verblasste allmählich. Das Licht ging zurück. Es schien sich innerhalb der Körper auflösen zu wollen, als wäre es selbst aufgefressen worden. Der Duft schien vom Wind verweht worden zu sein. Claudine nahm nur noch einige Reste wahr.
Sie zitterte. Der Fall war einfach zu tief gewesen. Zuerst die Euphorie, dann dieser rasante Absturz in die Tiefe der Psyche. Freude und Euphorie waren radikal vernichtet worden, denn nun hatte sich das genaue Gegenteil ausgebreitet.
Es war klar geworden. Düster und eisig. Wind wehte über die Gräber hinweg. Er spielte mit der dünnen Kleidung der Frau und ließ sie wie Gardinen wehen. Claudine fror. Längst hatte sich auf ihrer Haut eine zweite gebildet. Sie starrte aus furchtsamen Augen über die jetzt dunkel und düster wirkenden Gräber hinweg, über die nun tatsächlich ein dichter Schatten wanderte.
Claudine konnte sich nicht vorstellen, woher dieses bedrohliche Gebilde kam. Sie wollte schon in die Höhe schauen, als der kalte Guss sie von der linken Seite her erwischte. Beinahe wäre sie erstarrt, doch sie zwang sich dazu, zur Seite zu schauen.
Da stand er.
Claudine glaubte, zu Eis zu werden. Er war schon so nahe. Er sah so mächtig aus. Er war einfach die Inkarnation des Bösen, der anderen Seite der Engelwelt.
Damit wäre sie noch fertig geworden. Etwas anderes allerdings empfand Claudine Lanson als viel schlimmer.
Es war das Weinen eines Kindes…
***
Es hatte für mich keine Möglichkeit mehr gegeben, auszuweichen.
Suko war mit seinem gesamten Gewicht gegen mich geprallt, hatte mich mitgerissen, und der kurze Weg über das Dach auf die Kante zu verwandelte sich für mich in einen Höllentrip.
Bevor wir losgerutscht waren, hatte ich noch einen Blick zum First hochwerfen können. Wirklich nur für einen Moment, ein Augenzwinkern von der Zeit her, mehr nicht. Das hatte leider gereicht.
Belials Bahn war frei gewesen. Es gab keinen Widerstand mehr. So hatte er sich den Jungen geholt. Es war wie eine Umarmung unter Freunden gewesen.
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