Das Erbe der Drachen Teil 1 - Der brennende Traum
Junge. Ich befand mich auf Reisen und hörte von ... nun, von dieser Sache.«
» Davon, dass ich ein Mädchen entjungferte, das versprochen war.«
» Und davon, dass sie es nicht mehr weiß.«
» Vielleicht lügt sie.«
L’ordynn Grodon lächelte. »Sie lügt nicht. Glaube mir. Sie betet regelmäßig. Sie ist jung und voller Angst vor Götterstrafe. Sie würde niemals schwören, wäre es anders. Mirra lügt nicht. Sieh ihr in die Augen und du weißt, dass ich recht habe.«
Oh ja, er hatte in ihre Augen geblickt , und er hatte dasselbe gesehen wie dieser Grodon.
So ging er mit. Auf die Insel. Weit weg. Nach Loreon. In die Schule der Meisterdiebe.
Erst dort erfuhr er von seinem Talent.
Später versuchte er, Mirra zu finden. Und er fand ihr Andenken. Ihr neuer Mann hatte sie noch in der Hochzeitsnacht erschlagen. Er war betrunken gewesen. Er war für Mirra eindeutig die falsche Wahl gewesen, auch wenn er vermögend war. So etwas kam vor. Er wolle nicht mit einer Lügnerin das Bett teilen, sagte er lakonisch. Zwar hängte man den Mann auf und sprach Mirras Vater dessen Vermögen zu, wodurch der Alte schlussendlich doch noch zu Geld kam, aber das machte die arme Mirra nicht wieder lebendig.
Chargos strich mit den Fingerspitzen über das Halstuch.
Das Halstuch von Mirra.
Und er begriff, dass sein Talent ein Gabe war – und ein Fluch. Da jedoch der Fluch das Gebet der Götter war, beschloss er, sich dem zu beugen. Und er wurde der Meisterdieb Chargos L’okioen. Er wurde der Größte. Der einzig Wahre.
Doch das genügte ihm nicht.
Deshalb verkaufte er seine Seele.
» Ich werde dir das Armband stehlen«, sagte Chargos.
Willik lachte.
»Ich stehle es dir innerhalb der nächsten drei Minuten«, sagte Chargos.
Willik lachte noch lauter und sah sich zu den anderen Schülern um, als heische er um Beifall.
» Unmöglich«, raunzte Krendel, ein geschmeidiger Dieb der nächsthöheren Klasse. »Willik weiß es und wird sein Armband nicht aus den Augen lassen. So etwas funktioniert nicht.«
Meister Grodon schwieg. Er stand abseits. Das hier war keine offizielle Übung, sondern es hatte sich aus einem Wortwechsel ergeben.
Chargos war sich der neunzehn Augenpaare bewusst. Neunzehn! Er sah hin und wusste die Zahl. So, wie er sofort wusste, wie viele Hölzer ein Zaun hatte und wie viele Querverbindungen. Zahlen waren für ihn wie Bilder, die er miteinander verband.
Und er wusste zudem, was diese neunzehn dachten. Gedanken waren für ihn wie offenes Papyrr.
Er nahm wahr, ohne es zu lernen zu müssen, dass das Denken das Selbstgespräch der Seele war. Und oft konnte man Selbstgespräche erlauschen, wenn man genau hinlauschte. Gedanken hatten keine Grenzen. Es war nur die Angst, die Grenzen setzte.
Erstaunt stellte er fest, dass die Gedanken seiner Mitschüler aus Angst bestanden. Überwiegend aus Angst. Sie versanken in ihr und begnügten sich mit seichtem Wasser, paddelten darin herum, ruderten und stiegen daraus hervor, erfreut, nicht ertrunken zu sein, ohne darüber nachzudenken, dass sie hätten schwimmen können.
Er selbst hatte diese Angst nicht.
»In drei Minuten«, sagte er.
Nun lachte niemand mehr, denn jeder spürte, dass sich etwas Besonderes anbahnte. Entweder eine Sensation oder eine grauenvolle Blamage. Da die meisten von ihnen Chargos mochten, wollten sie nicht, dass er sich blamierte.
»Komm her, Krendel«, sagte Chargos und der fortgeschrittene Schüler kam zu ihm. »Schau her.« Chargos hielt ihm drei Würfel vor das Gesicht. »Was siehst du?«
» Was hat das damit zu tun?«, fragte Krendel.
» Was siehst du?«
» Drei Würfel!«
» Welche Zahlen?«
» Viele.«
» Und du? Was siehst du, Willik?«
» Drei Würfel.«
» Stellt euch vor, ich weiß, welche Zahl ihr beide sehen wollt, wenn ich die Würfel in meiner Hand mische.«
» Was hat das ...«, fing Krendel erneut an.
» Bist du zu feige für eine Antwort?«, fauchte Chargos. Er wirkte zornig, und man beachtete ihn.
Krendel und Willik starrten ihn an. Chargos nicht. Er hatte zu tun.
» Also, was wollt ihr sehen?«
» Sollen wir es sagen?«, fragte Willik.
» Nein, ich sage es euch«, antwortetet Chargos und trat um Willik, um genau zwischen ihm und Krendel zu stehen. Er mischte die Würfel in der hohlen Hand und breitete sie auf die Handfläche.
Alle Würfel zeigten auf allen Flächen eine sechs. Drei mal sechs mal sechs. Einhundertacht.
Willik und Krendel atmeten heiser aus.
» Verdammt, Kamerad, gute Arbeit!«,
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