Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
Handwerker nicht zu verfehlen war. Vorbei an mehrstöckigen Fachwerkhäusern und der reich bemalten Fassade des Rathauses gelangte er schließlich auf den weitläufigen Platz, über dem sich ein so unglaublicher Bau erhob, dass ihm vor Verblüffung der Atem stockte. Anders als beim Straßburger Münster, dessen massige Front von zwei Turmstummeln abgeschlossen wurde, war dieser Bau eindeutig auf einen einzigen, in das Langhaus hineingestellten Turm ausgerichtet, über dessen Erdgeschoss soeben ein Stangengerüst hochgezogen wurde. Schlank und lang gestreckt verband das noch unvollendete Mittelschiff den von zwei Türmen überragten Chor am Ostende des Baus mit dem begonnenen Westturm, der Gerüchten zufolge höher werden sollte als alles, was die Menschheit je gesehen hatte. Mit offenem Mund bestaunte Wulf das lebendige Wechselspiel von schwefelgelbem und graugrünem Sandstein sowie dem blendenden Weiß des Kalksteins, der im Licht der Sonne erstrahlte. Wie langweilig schien auf einmal die gleichmäßig rosarote Fassade des Straßburger Münsters! Begeistert und ehrfürchtig zugleich verfolgte er, wie eine wahre Heerschar von Maurern, Zimmerleuten und Mörtelträgern die Laufschrägen und Leitern erklomm, um in schwindelerregender Höhe ihren Aufgaben nachzukommen.
»Wenn du Arbeit suchst, melde dich in der Bauhütte.«
Die tiefe Stimme riss ihn aus der staunenden Betrachtung, und als er sich zu dem Sprecher umwandte, blickte er in ein Paar strahlend blauer Augen. Bevor der mit einer Lotwaage und einem Richtscheit bewaffnete Bursche weitereilte, wies er mit dem Daumen auf ein Holzhaus am Fuße der Nordmauer, aus dem soeben zwei Männer auftauchten. »Das ist Meister Ulrich. Wenn du dich beeilst, stellt er dich vielleicht ein.« Mit diesen Worten wandte der Maurer Wulf den Rücken und pfiff einen Knaben herbei, dem er befahl, eine Mörtelwanne aus der Mörtelgrube zu füllen und vor ihm herzutragen.
Nach einem kurzen Moment der Unschlüssigkeit, in der Wulf sich die plötzlich feuchten Handflächen an der Hose abwischte, fasste er sich ein Herz und näherte sich den beiden Männern, die heftig diskutierend auf einen unfertigen Strebepfeiler zusteuerten.
»Risse bedeuten schlampige Arbeit«, knurrte der ältere der beiden, dessen konservativer Tabbard – ein knielanges Obergewand – ebenso aus schwarzem Wollstoff gefertigt war wie seine Kappe und die engen Hosen. Die sorgfältig gelegten, grau melierten Löckchen bedeckten eine hohe Stirn, in die sich zwei tiefe Falten gruben. »Wer ist dafür verantwortlich?«, hörte Wulf ihn fragen, und bevor er allen Mut zusammennehmen und den Meister ansprechen konnte, wirbelte dieser unwirsch zu ihm herum, als habe er seine Gegenwart gespürt. Sein Begleiter, der Ulrich von Ensingen um einen halben Kopf überragte, war im Gegensatz zu dem schlanken Meister breit und muskulös. Als sein Blick auf den jungen Mann fiel, rümpfte er kaum merklich die Nase und verzog den Mund zu einem zynischen Lächeln. Als habe er sich nicht den ganzen Weg über die Worte zurechtgelegt, mit denen er den Werkmeister beeindrucken wollte, stammelte Wulf einen Gruß und errötete, als Ulrich von Ensingen streng seine Erscheinung mit den Augen abtastete.
»Wer bist du und was willst du?«, fragte er unwirsch und setzte wenig freundlich hinzu: »Für Paradiesvögel haben wir hier keine Verwendung.« Er wollte sich gerade abwenden, als Wulf die Sprache wiederfand und sich leicht verneigte.
»Mein Name ist Wulf Steinhauer«, hub er an und schlug die Augen nieder, um dem bohrenden Blick des Gehilfen auszuweichen. »Ich bin Steinmetz und suche eine Anstellung.«
Einige Zeit lang betrachtete der Baumeister ihn lediglich mit gerunzelter Stirn, bevor er gallig versetzte: »Wo kommst du her und unter wem hast du gelernt?«
Nachdem Wulf ihm so kurz und präzise wie möglich seine Ausbildung geschildert hatte, nickte er zögernd und schürzte die Lippen. »Das sind gute Referenzen. Ich brauche noch einen Gesellen. Du verdienst zwei Schilling am Tag plus Kost und Logis unter meinem Dach.« Bevor Wulf etwas erwidern konnte, hob er die Hand. »Du verpflichtest dich für mindestens ein halbes Jahr. Durchreisende kann ich hier nicht gebrauchen.« Das hatte der Torwächter bereits warnend erwähnt, da der Meister bekannt war für diese Eigenheit. Während es auf anderen Baustellen durchaus gang und gäbe war, dass die sich auf Wanderschaft befindlichen Handwerker nur wenige Tage dort zubrachten, schien Ulrich
Weitere Kostenlose Bücher