Das Erbe der Gräfin: Historischer Roman (German Edition)
hellblonder Knabe wissen, dessen offenes Gesicht über und über mit Sommersprossen bedeckt war. »Ich bin Hans.« Damit streckte er Wulf die Hand entgegen. »Noch ein halbes Jahr, dann bin ich auch Geselle.« Sein Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln, und zwei schelmische Grübchen tanzten auf seinen Wangen, als er Wulfs Erscheinung von Kopf bis Fuß mit Blicken abtastete. Er wies auf die gelben Seidenärmel. »Das hat dir sicherlich eine bissige Bemerkung vom Meister eingebracht«, stellte er fest und setzte sich lachend in Bewegung.
Wulf nickte und trabte neben ihm über den Platz zu einem etwa eine halbe Meile entfernten zweistöckigen Haus, dessen Obergeschoss ockerfarbenes Fachwerk zierte. »Wenn ich gewusst hätte, wie er darauf reagiert, hätte ich mich nicht so zum Narren gemacht«, gestand er dem etwa sechzehnjährigen Knaben, der ihm auf Anhieb gefiel. »Mach dir nichts draus«, erwiderte Hans mit einem Achselzucken. »Alles, was Meister Ulrich interessiert, ist das Steinmetzhandwerk. Wenn du deine Arbeit gewissenhaft und gut machst, könntest du vermutlich nackt zur Baustelle gehen. Es würde ihm nicht einmal auffallen.« Er schickte einen vorsichtigen Blick über die Schulter zurück. »Aber vor Ortwin musst du dich in Acht nehmen. Der ist hinterhältig und heimtückisch.« Nachdem er Wulf erklärt hatte, dass es sich bei Ortwin um den Gehilfen des Meisters handelte, dem Wulf bereits begegnet war, verstummte er, da sie vor einem zweiflügeligen Tor angelangt waren, an dem ein mächtiger Eisenklopfer prangte. Über dem Schlussstein des Torbogens hing ein mit einem Spitzeisen bemaltes Holzschild, auf dem in verschnörkelten Lettern der Name der Behausung aufgemalt war. » Zum spitzen Eisen«, las Wulf murmelnd und schrak sichtlich zusammen, als sich die Tür plötzlich von innen öffnete.
Das aus der Halle auftauchende Mädchen, das offensichtlich nicht damit gerechnet hatte, jemanden vor dem Tor anzutreffen, tat es ihm gleich und presste die Hand auf den Mund, um einen Schrei zu ersticken.
»Brigitta«, grüßte Hans, dessen Wangen sich mit einem tiefen Rot überzogen, und verneigte sich leicht. »Bitte entschuldige, wir wollten dir keinen Schrecken einjagen. Das ist Wulf. Er ist ein neuer Geselle deines Vaters.« Damit deutete er auf seinen Begleiter, der einen undeutlichen Gruß stammelte und zur Seite trat, um der jungen Frau Platz zu machen. Wenig höflich starrte er die schlanke Erscheinung an, deren wild gelocktes blondes Haar von einem dünnen Schleier bedeckt wurde. Mit einer ruckartigen Bewegung ließ sie die Hand zurück an ihre Seite sinken und nestelte mit den Fingern an der kirschroten Fucke – dem weit ausgeschnittenen, eng anliegenden Obergewand, das von einem breiten Gürtel zusammengehalten wurde. Um den vollen Mund spielte ein leicht hochmütiges Lächeln, das die sanften, braunen Augen jedoch nicht erreichte. Ein mehrfaches Blinzeln verriet die Unsicherheit, die sie mit einem Zurückwerfen des Kopfes zu kaschieren versuchte. Ohne ein Wort nickte sie den jungen Männern zu und huschte in die hereinbrechende Dunkelheit davon. Nachdem die beiden Lehrknechte ihr einige Augenblicke lang wortlos nachgestarrt hatten, räusperte sich Hans und gab Wulf mit einer Geste zu verstehen, ihm in die Eingangshalle zu folgen, die von einem halben Dutzend Fackeln erhellt wurde. Verunsichert von dem Eindruck, welchen die Tochter des Hauses auf ihn gemacht hatte, schloss Wulf zu seinem Begleiter auf und schaute sich halbherzig in dem nach Lehm und frischem Stroh duftenden Raum um.
An der rechten Wand befand sich ein offen stehendes Tor zum Innenhof, in dem sich – so informierte ihn Hans – die Ställe, der Brunnen, ein Wasch- und ein Badehaus sowie das Scheißhäuslein befanden. »Du kannst aber auch den Abtritt in der Küche benutzen«, plapperte der Junge weiter und schob Wulf an einer ins Obergeschoss führenden Treppe vorbei in die niedrige Küche, in der in einem gemauerten Herd ein gewaltiges Feuer brannte. »Komm«, forderte er seinen Begleiter auf, drängte sich an den Mägden und Küchenhilfen vorbei und setzte den Fuß auf eine steile Leiter, über die man ein Zwischengeschoss erreichte. »Gesellen, Knechte und Lehrlinge schlafen hier«, teilte er Wulf beinahe stolz mit und breitete die Arme aus, sobald sie den strohbedeckten Absatz erreicht hatten.
In einem etwa zwölf mal zwölf Fuß messenden Raum, dessen Wände in regelmäßigen Abständen von unverschlossenen Fensterluken
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