Das Erbe der Pandora
aufstieß, sah sie Evan in den Aufzug steigen.
»Halten Sie den Aufzug an, bitte!«
rief sie und ging rasch darauf zu. Entweder ignorierte er sie, oder er hatte
sie nicht gehört, denn sie mußte die Hand zwischen die sich schließende Tür
halten. Sie öffnete sich wieder.
»Hallo, Evan«, sagte sie freundlich,
obwohl er ihr nicht die Tür aufgehalten hatte.
Er lächelte mit geschlossenem Mund und
neigte den Kopf leicht in ihre Richtung — die gleiche unterwürfige Geste, die
er am Tag ihres Kennenlernens vorgeführt hatte.
Sie berührte die Sensor-Taste für die
Eingangshalle und merkte, daß die Taste für den zehnten Stock leuchtete. Sie
versuchte krampfhaft, sich zu erinnern, welche Büros im zehnten Stock lagen.
Ihr fiel ein, daß dort einige Anwälte und Zahnärzte waren. Vielleicht hatte er
ein paar persönliche Angelegenheiten zu regeln.
Als die Tür im zehnten Stock aufging,
bewegte sich Evan, als wollte er aussteigen, zögerte dann aber.
»Ist dies nicht Ihr Stock?«
»O ja, stimmt.« Seine Überraschung
wirkte gespielt.
»Bis morgen.«
Er stieg aus. »Bis dann.«
Die Tür ging zu, und der Fahrstuhl
ging abwärts. Spontan schlug Iris wie verrückt auf die Sensor-Tasten. Der
Aufzug hielt schließlich im achten Stock. Sie stieg aus, ging zu der Treppe am
Ende des Flures und marschierte zurück nach oben in den zehnten Stock. Auf dem
Treppenabsatz drehte sie vorsichtig den Türknauf herum, öffnete die Tür und sah
auf den Flur. Von Evan war nichts zu sehen.
Verstohlen schlich sie auf den Flur,
ging in Richtung Aufzug und sah um die Ecke. Immer noch nichts von ihm zu
sehen. Sie kam sich albern vor und wollte gerade per Tastendruck den Aufzug
holen, als sie seine Stimme hörte.
Auf Zehenspitzen ging sie zum anderen
Ende des Aufzugschachtes, drückte sich platt an die Wand und warf einen raschen
Blick auf den Flur um die Ecke. Da stand Evan und telefonierte mit seinem
Handy.
»Zentren ist eine großartige Aktie und
im Moment sehr günstig zu haben«, sagte er voller Selbstvertrauen. »Ich habe
sie schon für viele meiner Kunden gekauft. Jedes Wertpapier birgt ein größeres
Risiko als ein Schatzwechsel oder ein Geldmarktkonto. Sie müssen Ihre Aversion
gegen das Risiko selbst einschätzen.«
Das war ein Standardspruch, um zum
Kauf zu überreden. Sie kannte die Aktie, die er empfahl, und sie hielt es für
eine gute Wahl. Warum aber verhandelte er auf dem Flur im zehnten Stock?
»Sie haben die richtige Entscheidung
getroffen«, sagte Evan. »Schreiben Sie einen Scheck für zehntausend Dollar auf
Canterbury Investments aus. Nein, nicht auf McKinney Alitzer. Dies ist meine
eigene Investmentfirma. Ich nehme geringere Gebühren als die größeren
Unternehmen. Ich kann Ihnen sicherlich ein Konto bei MyKinney einrichten, wenn
Sie das möchten, aber Sie würden höhere Gebühren zahlen, und der Service bliebe
der gleiche. Ja, genau, Canterbury Investments. Ich melde mich bei Ihnen.
Gut...«
Iris spurtete an den Aufzügen vorbei,
den Flur entlang, stieß die Tür zum Treppenhaus auf und hörte erst auf zu
rennen, als sie die Eingangshalle erreicht hatte.
22
B rianna Cross saß an einem Tisch neben
dem Pool der Cross-Villa, nicht weit von der Stelle entfernt, an der ihre Mutter
gestorben war, und sang vor sich hin, während sie mit Buntstiften auf einem
Zeichenblock malte. Sie trug ein flauschiges pinkfarbenes Sweatshirt und eine
Jeans mit bunten Applikationen von Blumen und Schmetterlingen. Ihre langen,
dunklen Haare wurden am Hinterkopf von einer großen pinkfarbenen Schleife
zusammengehalten.
»Ist dir kalt, Brianna?« fragte Summer
Fontaine.
Das kleine Mädchen war in seine Arbeit
vertieft und antwortete nicht.
Summer lag auf einem Liegestuhl; sie
trug genau die gleiche Jeans und das gleiche Sweatshirt wie Brianna. Sie sah zu
den dunklen Wolken auf, die am Himmel vorbeizogen. »Ich glaube, es wird regnen.
Ich hasse es, wenn die Sonne nicht scheint. Da bekomme ich immer einen
Moralischen«, meinte sie schmollend. Sie sah zu Brianna. »Willst du mit
hineingehen und sehen, was im Fernsehen kommt?«
»Nein«, antwortete Brianna
ausdruckslos.
»Freust du dich, zu Hause zu sein?«
»Ja.«
»Hattest du Spaß bei Oma und Opa?«
»Ja.«
»Hast du mich gern?«
Brianna hielt in ihrer Arbeit inne,
suchte grazil die auf dem Tisch verstreuten Stifte durch, entschied sich für
eine neue Farbe und malte dann weiter.
»Brianna!« Summer stand auf und sah
das Kind wütend an. Summers volle Lippen
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