Das Erbe der Pandora
höher, Daddy.« Sie
quiekte und reckte die Arme gen Himmel.
Kip gehorchte. »Warum möchtest du so
hoch sein?«
»Ich möchte Mommy im Himmel berühren.«
Sie lehnte sich zurück und griff in die Luft. »Oma hat gesagt, daß sie da ist.
Sie ist doch da oder, Daddy?«
Kip sah zu dem dicht verhangenen,
grauen Himmel. Er glaubte nicht an Gott, auch nicht an den Himmel oder die
Hölle. Aber er sah seine Tochter an, die glücklich war bei dem Gedanken, daß
ihre Mutter überall und immer bei ihr war, und er wollte ihr dieses kleine
Gefühl der Sicherheit nicht nehmen. »Ja, mein Schatz. Sie ist da.«
Das Telefon klingelte.
»Summer!« rief Kip. »Geh ans Telefon!«
»Es klingelt immer noch, Daddy.«
Kip setzte seine Tochter ab und rannte
los, um das schnurlose Telefon von dem kleinen Tisch neben dem Liegestuhl zu
nehmen.
»Hallo?«
Niemand antwortete, aber der Anrufer
legte auch nicht auf.
»Hallo?« wiederholte Kip lauter.
Summer stand auf der Schwelle der
Terrassentür.
Kip schaltete wütend das Telefon aus
und sah sie an.
»Wahrscheinlich irgendein Irrer«,
meinte sie schulterzuckend.
»Das war heute schon das dritte Mal,
und dabei hab’ ich die Nummer erst vor zwei Tagen ändern lassen.«
»Ich kenne sie schon auswendig«,
meinte Brianna vom Terrassentisch, wo sie wieder malte.
»Schon?« Kip lächelte seine Tochter
an. »Du bist ein kluges Mädchen, Brianna.«
»Es ist nicht besonders schwer, eine
Geheimnummer herauszufinden«, sagte Summer.
»Ich hab’ noch nicht gehört, daß du
irgendwelche Anrufe von Irren bekommen hast«, meinte Kip zu ihr. »Wieso wohl?«
»Weiß ich nicht.« Summer hatte das
pinkfarbene Sweatshirt ausgezogen, das dem von Brianna glich, und trug nun ein
weißes, langärmeliges Shirt aus Stretchvelour.
»Vielleicht weil dein Freund auflegt,
wenn ich ans Telefon gehe.«
Summer runzelte übertrieben die Stirn.
»Freund?«
Kip lachte. »Kein Wunder, daß du
keinen Job als Schauspielerin bekommst, wenn das eine Probe deines Könnens
war.« Sein Lächeln erstarb. »Lügnerin.«
»Ich lüge nicht.«
Er ging auf sie zu, sein Oberkörper
war angespannt. »Was du auch tust, mach nicht den Fehler, mich für dumm
verkaufen zu wollen.«
Beschützend verschränkte sie die Arme
vor der Brust, als er näher kam. »Ich erzähle dir die Wahrheit, Kip.«
Er blieb wenige Zentimeter vor ihr
stehen und beugte sich immer noch verkrampft zu ihr hinüber. Sein Gesicht war
jetzt tiefrot. »Lüg mich nicht an!«
Sie zuckte zusammen, als er die Hand
über ihren Kopf hob, und hielt abwehrend die Arme vor sich. »Kip... nicht!«
Er nahm ein Blatt aus ihrem Haar und
sah sie amüsiert an. »Was? Hast du geglaubt, ich schlage dich oder so etwas?«
Sie rieb sich über die Arme und meinte
weinerlich: »Nein.«
»Du hast Angst vor mir.« Er schien
darüber nachzudenken.
»Sei nicht albern, Kip.« Sie trat einen
Schritt zurück.
»Doch. Du hast Angst vor mir.«
»Ich bin fertig!« rief Brianna und
wedelte mit einem Blatt Papier in der Luft.
Dankbar für die Möglichkeit, Kip zu
entkommen, ging Summer zu Brianna und nahm die Zeichnung entgegen. Ihr stockte
der Atem. Kip riß Summer das Blatt aus der Hand.
Brianna erklärte ihr Werk. »Das ist
Mommy, und das ist Slade Slayer. Er hat Mommy wehgetan.«
Kip betrachtete Briannas Darstellung
ihrer Mutter, die im Badeanzug auf dem Boden in einer Blutlache lag. Über ihr
stand ein in Schwarz gekleideter Mensch, der eine mit einem silberfarbenen
Stift grob gezeichnete Waffe in der Hand hielt. Die Gestalt hatte kurzes,
gelbes Haar und einen weißen Strich im Gesicht, der den zähnefletschenden Slade
Slayer verdeutlichen sollte.
»Mein Gott.« Summer legte sich die
Fingerspitzen auf den Mund.
»Das ist Stetson.« Brianna zeigte auf
einen gräulich schwarzen Klecks mit roten Streifen, der neben einem großen
blauen Viereck — dem Swimmingpool — lag. »Ich glaube, er ist mir nicht so gut
gelungen.«
Kip schien wie hypnotisiert, während
er die Zeichnung betrachtete.
»Brianna, hast du solche Bilder auch
bei deiner Oma gemalt?« fragte Summer.
Sie nickte.
Kip riß das Bild in der Mitte entzwei.
Summer und Brianna sahen ihn beide
verdutzt an.
Er zerriß es in immer kleinere Stücke.
»Daddy!« protestierte Brianna. »Mein
Bild!«
»Kip!« rief Summer. »Laß sie malen!
Das ist gut für sie. Es hat sich alles in ihr aufgestaut.«
Brianna machte den Mund weit auf, und
ihr Gesicht lief rot an. Zuerst entwich kein Ton. Dann stieß sie einen
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