Das Erbe der Pandora
zahlreichen gerahmten Fotos dekoriert war. Sie
kamen in den hinteren Teil des Hauses, wo das Wohnzimmer lag. Es war voller
Menschen, und Iris erkannte unter ihnen Bridgets Brüder. Durch ein
Panoramafenster sah sie einen Haufen Kinder, die im Garten spielten.
»Joe, schau mal, wer gekommen ist.«
Joe Tyler erhob sich langsam aus einem
Fernsehsessel. Er war schon immer kräftig gewesen, aber er hatte noch zugelegt,
seitdem er aus der Reifenfabrik, in der er sein ganzes Leben gearbeitet hatte,
ausgeschieden war und sich zur Ruhe gesetzt hatte. Sein volles, welliges Haar
war silbern geworden. Er umarmte Iris so herzlich, daß ihr der Atem wegblieb.
Es war, als könnte er irgendwie seine Tochter berühren, indem er ihre Freundin
fest umklammerte. Dann nahm er ihre Hände und sah sie eindringlich an. Er sagte
kein Wort und sie auch nicht. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Iris bemühte
sich, aufrecht stehenzubleiben und nicht in seine Arme zu sacken, auch wenn sie
das absurde Gefühl hatte, daß dieser Mann mit seiner herzlichen Umarmung ihren
Schmerz lindern könnte.
Das hatte er einmal vor langer Zeit.
Es hatte irgend etwas mit einem Jungen zu tun gehabt, Iris konnte sich jetzt
nicht einmal mehr an die Einzelheiten erinnern. Joe Tyler hatte gesehen, daß
sie weinte, hatte sie umarmt und ihr angeboten, mit dem jungen Mann zu reden.
Sie war über alle Maßen gerührt gewesen, daß jemand nicht nur ihre Verzweiflung
erkannt, sondern auch noch Hilfe angeboten hatte. Sie war so daran gewöhnt
gewesen, die Schwierigkeiten des Lebens auf eigene Faust zu meistern. Aber
heute konnte er ihr nicht helfen. Er ließ sie los und schleppte sich zu seinem
Sessel zurück.
Iris ließ das Vorstellen und erneute
Vorstellen über sich ergehen und nahm ein Glas Wein und ein halbes Sandwich von
dem Eßtisch, auf dem sich die Lebensmittel von Freunden türmten, die die
gleiche Idee gehabt hatten wie Iris — daß man Trauer so lange füttern oder
tränken konnte, bis sie in Vergessenheit geriet.
»Es findet am Montag statt, um elf Uhr
in Pleasant Hills.« Natalie sprach von der Beerdigung. »In der Kapelle >Good
Shepherd<.« Sie standen im Eßzimmer. Iris knabberte an ihrem Sandwich und
nippte an dem Wein, der ein angenehm warmes Gefühl in der Kehle verbreitete.
»Wir hätten die Beerdigung natürlich
gern früher stattfinden lassen, aber die Polizei gibt ihren Leichnam nicht
vorher frei. Sie meinten, sie würden Kip zur Beerdigung kommen lassen.« Natalie
erzählte diese Einzelheiten ungerührt. »Ich nehme an, der Staatsanwalt muß bis
Dienstag entscheiden, ob es genügend Beweismittel gibt, um Anklage zu erheben.«
Über Natalies Schulter hinweg
beobachtete Iris die Kinder, die Fangen spielten, und zwar mit komplizierten
Regeln, die mit jeder Runde verwirrender wurden. Die beiden kleinen
Mischlingshunde der Tylers hatten sich dazu gesellt und bellten und hingen an
den Fersen der herumtollenden Kinder. Brianna saß in einem weißen Kindersessel
abseits der anderen und las ihrer Pocahontas-Puppe, die neben ihr saß, aus
einem Buch vor.
Iris wurde schwer ums Herz. »Ich hätte
ihr etwas mitbringen sollen.«
»Da drinnen liegen mindestens zwei
Dutzend nagelneue schöne Puppen, die man ihr mitgebracht hat. Einige von ihnen
wurden von vollkommen Fremden geschickt, die in den Nachrichten davon gehört
haben. Sie rührt sie nicht an.« Natalie seufzte. »Sie spielt nicht mit den
anderen Kindern, sie redet mit niemandem. Ich weiß nicht, was ich machen soll.
Ich würde sie gern mit einem Spezialisten reden lassen. Aber du kennst ja Kip.
Das sind in seinen Augen alles Quacksalber und Scharlatane.«
»Kip sagte, daß sie sich an nichts
erinnert.«
»Sie erinnert sich einzig daran, zu
Hause ins Bett gegangen und hier aufgewacht zu sein. Sie hat es verdrängt. Es
ist zu schmerzhaft. Ich bin ja keine Psychologin, aber soviel weiß ich auch.«
Natalie sah Iris unerschrocken an. »Ich glaube, Kip will nicht, daß sich
Brianna erinnert.«
»Offen gesagt weiß ich nicht, was ich
denken soll.«
Natalie zwinkerte mehrmals, so als
hätte sie es nicht richtig verstanden. »Du kannst doch nicht glauben, daß Kip
unschuldig ist.«
»Ich bin mir einfach nicht sicher. Er
steht ganz oben auf der Liste der Verdächtigen, aber so wie sich der Mord
ereignet hat, sieht es nicht nach ihm aus. Alle wissen, daß er unberechenbar
ist. Ich hab’ gesehen, wie er Sachen durch die Gegend schmeißt, mit Fäusten
Wände einreißt...«
»Er hat meine Tochter
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