Das Erbe der Runen 01 - Die Nebelsängerin
verschweigen.«
»Das soll einer verstehen«, warf Laura Evans ein.
»Nun, was auch immer der Grund für ihr Schweigen gewesen sein mag, der Inhalt dieses Kartons hat mir, wenn auch spät, viele Fragen beantwortet.« Er legte den Deckel zur Seite. »Und es ist auch etwas dabei, das uns vielleicht weiterhilft.«
»Und was?« Ajana beugte sich über den Karton, warf einen neugierigen Blick hinein und schaute ihrem Vater zu, der einen Stapel alter, vergilbter Schwarzweißfotos durchsah, die unter ein paar losen Blättern und einem kleinen, abgegriffenen Büchlein lagen. »Ah, hier ist es!« Von ganz unten zog er ein Foto hervor und reichte es seiner Tochter. Es war ein verblichenes Porträt mit altertümlich gewellten Rändern und zeigte eine elegante junge Frau, die ganz im Stil der zwanziger Jahre gekleidet war. Die streng auf Kinnlänge geschnittenen schwarzen Haare wurden über der Stirn von einem funkelnden Reif zurückgehalten, in dem am Hinterkopf prächtige weiße Federn steckten. Eine Zigarette mit langem silbernem Mundstück lässig zwischen den Fingern haltend, stützte sie ihr Kinn in die Handfläche und schaute kokett in die Kamera.
»Wer ist das?« Ajana betrachtete das Foto neugierig von beiden Seiten und las laut vor, was in altmodischer Handschrift auf der Rückseite geschrieben stand:
»21St of June 1920 – For John in memory of a beautiful time.
With love, Mabh.«
Nachdenklich ließ sie das Foto sinken und schaute ihren Vater an. »In Liebe, Mabh«, wiederholte sie. »Ist sie das?«
Ihr Vater nickte. »So viel ich weiß, war sie die einzige Mabh in meiner Familie.« Er nahm Ajana das Foto aus der Hand. »Einhundertundeins soll sie geworden sein«, murmelte er. »Wenn sie 1999 gestorben ist, müsste sie auf diesem Foto …«
»… zweiundzwanzig gewesen sein.« Ajana hatte mitgerechnet. »Das kommt hin. Aber wie bist du denn mit ihr verwandt?«, wollte sie wissen.
»Sie ist meine Großmutter, aber das weiß ich erst, seit ich diesen Karton erhalten habe.« Ajanas Vater zog ein anderes Foto hervor, das einen mürrisch blickenden Mann mit Oberlippenbart, eine sehr ernste Frau mit Spitzenhaube und zwei Jungen in Matrosenanzügen zeigte. »Bis dahin hatte ich immer geglaubt, diese Frau sei meine Großmutter, denn das hier«, er zeigte auf den größeren der beiden Knaben, »ist mein Vater.«
»Zeig mal.« Ajana nahm das Bild an sich und betrachtete es eingehend. Dann stutzte sie. »Der sieht seinem kleinen Bruder aber gar nicht ähnlich.«
»Gut beobachtet.« Ihr Vater nickte zustimmend. »Es sind auch keine Brüder, sondern Halbbrüder.«
»Halbbrüder? Heißt das, sie …«
»… haben denselben Vater, aber nicht dieselbe Mutter.« Kyle Evans holte einen abgegriffenen Briefumschlag aus dem Karton. »Diesen Brief hat Mabh 1923 an meinen Großvater geschrieben. Darin teilt sie ihm mit, dass sie ihm einen Sohn geboren hat, betont aber gleich, dass sie sich nicht um das Kind kümmern kann. Wenn ich den Brief richtig interpretiere, muss Mabh in den zwanziger Jahren eine sehr berühmte Sängerin in Irland gewesen sein. Ein Kind passte anscheinend nicht in ihr Leben. Mit diesem Brief bittet sie meinen Großvater, sich des Jungen anzunehmen und ihn gemeinsam mit seiner Frau wie ein eigenes Kind aufzuziehen.«
Ajana pfiff leise durch die Zähne. »Die war ja hart drauf! Und dann müsste diese Mabh also meine Urgroßmutter gewesen sein – richtig?«
»Richtig.« Kyle Evans legte den Brief in den Karton zurück.
»Also ist es auch möglich, dass ich von ihr etwas erbe«, schloss Ajana erfreut.
»Immer langsam«, erwiderte ihr Vater. »Ich will auf jeden Fall erst mal in Erfahrung bringen, was es mit dem angeblichen Nachlass auf sich hat. Nicht, dass wir uns am Ende eine Menge Schulden einhandeln.«
»Haltet ein!«
Die Stimme knallte hart wie eine Peitsche durch den großen Ratssaal.
Ein aufgebrachter Redner, der sich soeben wortgewaltig darüber ereiferte, dass der Hohe Rat Huren und Bettlern bei der Evakuierung Sanforans den Vorrang vor wertvollen Gütern geben wollte, verstummte und fuhr herum, um zu sehen, wer es wagte, die Zusammenkunft auf solch respektlose Weise zu stören.
Der hoch gewachsene Mann, der soeben den Raum betreten hatte, hielt inne. Die Kapuze des regenschweren Reiterumhangs hatte er tief ins Gesicht gezogen. Der tropfnasse Mantel war voller Schlamm und glänzte ölig.
Entgegen dem unziemlichen Eintreten schienen ihm die Vorschriften und Regeln der
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