Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
Kind in Andaurien kannte das verbotene Lied von Arton dem Barden, und mit ihm die Legenden, die sich um das kriegerische Volk der Djakûnreiterinnen rankten. Die Nuur waren ein kleines und sehr stolzes Volk, das im undurchdringlichen Dschungel der Artasensümpfe westlich des Pilan Zuflucht gefunden hatte. Sie waren die letzten Nachkommen der Wunand, einem der vier Stämme, die den Anhängern des einzigen Gottes vor fast sechshundert Wintern in der großen Schlacht unterlegen waren. Die überlebenden Krieger der königstreuen Stämme, zu denen auch die Wunand gehörten, waren damals mit ihren Familien in die Wüste geflohen, wo sie der Überlieferung nach ein schreckliches Ende gefunden hatten.
Wie ihre verschollenen Ahnen, waren auch die Nuur ein Amazonenvolk mit wenigen männlichen Nachkommen. Und wie die Wunand hatten auch sie sich nie dem Blutgott unterworfen.
Aus Liebe zu den Djakûn, den mächtigsten Raubkatzen des andaurischen Dschungels, hatten sich die Nuur damals geweigert, ihren Schwestern und den anderen Stämmen in die Wüste zu folgen. Sie hatten um das Leben ihrer edlen Gefährten gefürchtet, die sie wie Haustiere hielten, und sie hatten recht daran getan. Doch für diese Treue zahlten sie einen hohen Preis, denn seither verfolgten sie die Anhänger des Blutgottes gnadenlos. Die wenigen, die der mörderischen Hetzjagd entgangen waren, suchten Schutz in den undurchdringlichen Wäldern der Artasensümpfe und führten dort ein Leben im Verborgenen.
Niemand vermochte zu sagen, wie viele Nuur noch am Leben waren. Doch die Geschichte ihres Stammes; der Mut und die Entschlossenheit der Djakûnreiterinnen im Kampf gegen die grausamen Priesterinnen des Blutgottes fanden den Weg in die Legenden, die man sich an den Herdfeuern in Andaurien heimlich erzählte. Das mutige Aufbegehren der Nuur machte sie zum Sinnbild des Widerstandes, der sich insgeheim an vielen Orten Andauriens gegen die grausame Knechtschaft der Priesterherrschaft regte und der zum Hoffnungsträger für alle geworden war, die im Stillen für die Rückkehr der alten Götter beteten.
Yenu spürte, wie die Anspannung langsam aus ihren Gliedern wich.
Von einer Nuur, so glaubte sie, hatte sie nichts zu befürchten. Dennoch war Vorsicht geboten. Yenu hatte nicht nur die Gesetze ihres eigenen Volkes gebrochen, sie war auch in das Gebiet der Nuur eingedrungen.
»Du hast mir noch nicht geantwortet!« Die barschen Worte ließen Yenu zusammenzucken.
»Ich … ich suche jemanden«, erwiderte sie hastig in der Hoffnung, dass die Fremde sich damit zufrieden geben würde.
Die Amazone schwieg. Ihre Haltung ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass sie mehr wissen wollte. »Und wen suchst du?«, hakte sie schließlich nach. »Hast du ihn gefunden?«
»Nein, ich …« Yenu blickte sich unsicher um. »Ich … ich furchte, ich habe mich verlaufen.«
»Es ist nicht nur einfältig, sondern auch gefährlich, sich des Nachts allein im Dschungel herumzutreiben – vor allem, wenn man unbewaffnet ist.« Die Fremde gab Yenu mit der Hand ein Zeichen. »Folge mir, ich werde dich zur Brücke führen.«
»Nein!« Yenu löste sich vom Baumstamm und machte einen Schritt auf die Amazone zu. »Ich kann nicht zurück – jetzt noch nicht.« Sie blickte die Nuur unglücklich an. »Wilnu – mein Gefährte – ist hier.«
»Ist er es, nach dem du suchst?«, wollte die Nuur wissen.
»Ja. Er sollte … er ist …« Noch während sie nach Worten suchte, erinnerte sich Yenu daran, wie abfällig die Kriegerin von den Auserwählten gesprochen hatte. Verlegen schaute sie zu Boden. Aber die Nuur kannte die Antwort bereits.
»Ein Auserwählter?«, fragte sie.
Yenu nickte stumm. Etwas in dem Tonfall der Fremden ließ sie aufhorchen. Eine Spur von Mitgefühl schwang darin mit, das sie sich nicht erklären konnte. »Habt Ihr die Auserwählten gesehen?«, fragte sie hoffnungsvoll. »Wisst Ihr, wo …?«
»Ja, das habe ich.«
»O bitte, dann führt mich zu ihnen!« Einer jähen Anwandlung folgend, ergriff Yenu die Hand der Fremden. »Bitte!«, flehte sie. »Ich habe Wilnu nun schon seit zwei Nächten nicht mehr gesehen und mache mir große Sorgen.«
»Bist du sicher, dass du ihn sehen willst?« Die Art, wie die Amazone ihren Blick erwiderte, beunruhigte Yenu. Etwas Dunkles, Bedrohliches lag darin. Etwas, das sie davon abhalten wollte, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Sie zögerte, aber der Wunsch, Wilnu zu finden, war stärker.
»Mehr als alles andere«, sagte sie mit fester
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