Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
eine Hülle, ein vergängliches Haus, das sie vorübergehend bewohnt hatte. Es war nicht sie selbst. Sie war hier – und sie wurde gerufen.
Ajana machte sich bereit.
Ich komme. Der Gedanke formte sich in ihr wie von selbst, und sie wehrte sich nicht dagegen. Sie hatte losgelassen und war bereit.
Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende geführt, spürte sie, wie sie angehoben und davongetragen wurden. Ein leichter Wind wehte sie fort an jenen unbekannten Ort, der nur denen zu betreten gestattet war, die ihre sterbliche Hülle abgelegt hatten.
Dann, ganz unvermittelt, fand sie sich in einem Fluss wieder, dessen Strömung sie davontrug. Hier traf sie auf andere, die wie sie auf der Reise waren. Alte zumeist, das Gesicht von der Last der Jahre oder langem Siechtum gezeichnet. Doch es waren auch einige junge Menschen unter ihnen. Sie schienen es eilig zu haben, denn sie trieben stumm vorbei. Körperlose Seelen, deren Erinnerungen auf der langen Reise in die Ewigkeit langsam verblassten.
Je weiter sie trieb, desto enger wurde es. Einige Seelen klagten und jammerten und versuchten vergeblich das Flussufer zu erklimmen, doch die meisten fügten sich stumm in ihr Schicksal – so wie Ajana.
Sie fühlte sich vollkommen sorglos und frei, aber auch geborgen, und wünschte sich nichts sehnlicher, als ewig so dahintreiben zu können.
Die Erinnerung an das, was sie ihr Leben genannt hatte, begann zu verschwimmen, doch selbst das kümmerte sie nicht. Das alte Leben hatte keine Bedeutung mehr, es war vergangen und nicht mehr …
Plötzlich spürte sie, wie etwas nach ihr griff. Finger tauchten ins Wasser und packten sie.
Ajana wand sich unter dem Griff. Sie wollte nicht fort, wollte einfach nur so weitertreiben und sich von dem Strom forttragen lassen. Doch die Finger hielten sie unnachgiebig fest und rissen sie schließlich aus dem Strom heraus.
»Emo sei Dank! Ich fürchtete schon, ich käme zu spät!« Ein erleichtertes Lächeln huschte über das Gesicht der jungen Frau, die sie aus dem Fluss gezerrt hatte. Tiefschwarze Haare umrahmten ein ebenmäßiges Antlitz von hehrer Schönheit, an das Ajana sich nicht erinnern konnte. Sie wehrte sich immer noch und versuchte verzweifelt, den Fluss wieder zu erreichen, gab aber bald jede Gegenwehr auf. Sie fürchtete sich, doch spürte sie zugleich, dass ihr kein Leid geschehen würde.
Im Strom hörte sie andere Seelen klagen, schreien und flehen, man möge auch sie befreien, doch die Frau kümmerte sich nicht darum. Vorsichtig erhob sie sich und betrachtete, was von Ajana verblieben war. »Das Opfer, das du gebracht hast, war nicht vergebens«, sagte sie sanft. »Was du ersehnst, wird sich erfüllen. Ich bewundere deinen Mut, doch dies ist nicht dein Weg!« Sie lächelte milde und fügte hinzu: »Vertrau mir, ich führe dich zurück.«
Nach dem Abend kam die Nacht, aber sie brachte keine Dunkelheit. Zu hell loderten die Flammen des magischen Feuers, das Ajana in den Nebeln geschaffen hatte.
Kruin, der am Morgen mit seinem Talpunga nach Udnobe reiten wollte, hatte sich schlafen gelegt, doch die anderen fanden keine Ruhe. Inahwen und Abbas saßen schweigend nebeneinander, starrten auf die feurige Nebelwand und hingen ihren eigenen Gedanken nach, während Keelin sich noch weiter in seine stumme Trauer zurückgezogen hatte.
Abbas regte sich und berührte die Elbin am Arm. »Seht!«, sagte er und deutete zum Arnad. »Täusche ich mich, oder wird der Feuerschein schwächer?«
»Du täuschst dich nicht.« Inahwen seufzte. »Die Nebel schwinden und mit ihnen auch das Bild des Feuers. Die Magie der Nebel ist an das Leben der Nebelsängerin gebunden. Stirbt sie, kann auch die Magie nicht länger bestehen.«
»Glaubt Ihr, sie wollte es so?«, fragte Abbas.
»Ajana hegte stets große Zweifel, ob die Nebel der richtige Weg zum Frieden wären.« Inahwen nickte. »Es ist zu vermuten, dass sie nach ihrem Gewissen gehandelt hat.«
»Wie lange werden sie noch bestehen?«
»Das vermag ich nicht zu sagen. Der Tod von Mabh O’Brian kam langsam und schleichend. Je mehr ihre Kräfte schwanden, desto schwächer wurden auch die Nebel. Ajana hingegen starb schnell …«
Sie führte den Satz nicht zu Ende, doch Abbas verstand. »Wird es wieder Krieg geben?«, fragte er besorgt.
»Das ist ungewiss.« Inahwen nahm den Blick nicht von den Nebeln, deren tiefrotes Glühen fast unmerklich in ein helles Orange übergegangen war. »Die Uzoma haben große Verluste erlitten, und auch die Vereinigten
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