Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
Stämme sind geschwächt. Ein neuerlicher Krieg wäre keine Lösung. Er würde das Leid der Völker nur vergrößern. Wir müssen abwarten. Der Rat in Sanforan wird eine weise Entscheidung zu treffen haben.«
»Nun, zumindest haben die Uzoma keine magische Unterstützung mehr«, meinte Abbas und warf einen kurzen Seitenblick auf den schlafenden Kruin. »Und nicht alle von ihnen sind blutrünstige Barbaren.«
Inahwen antwortete nicht. Schweigend beobachtete sie, wie das Feuer an Kraft verlor und die Nebel langsam schwanden.
Sie fühlte weder Kummer noch Zorn über das schwere Erbe, das Ajana Nymath hinterlassen hatte, wohl aber blickte sie voller Sorge in die Zukunft. Von Kruin wusste sie, dass es sein vorrangiges Bestreben war, das Heer der Uzoma nach Udnobe zu führen, um die getrennten Familien wieder zu vereinen. Und sie wusste um seinen Wunsch nach Frieden. Wie sie, so wäre auch er gewiss zu Verhandlungen bereit. Das gemeinsam ausgestandene Abenteuer hatte ihnen die Augen geöffnet und dazu beigetragen, Irrtümer und Vorurteile auf beiden Seiten auszuräumen. Doch sie waren nur zwei, und wenngleich ihre Stimmen ein großes Gewicht hatten, blieb dennoch die Frage, ob es ihnen gelingen würde, die anderen von der Notwendigkeit der Verhandlungen zu überzeugen.
Eines jedoch wusste sie schon jetzt. Das Nymath nach den Nebeln würde ein anderes werden. Ob ein friedliches, lag allein in den Händen der Völker.
Der Verfall der Nebel schritt weitaus schneller voran, als Inahwen es für möglich gehalten hätte. Zur Mitte der Nacht hatten sie bereits die Hälfte ihres Umfangs eingebüßt. Wenig später erlosch das Feuer. Bald konnte sie im Mondlicht die Steppe auf der anderen Seite des Flusses erkennen und weit dahinter die dunklen Umrisse des schneebedeckten Pandarasgebirges vor dem ersten Grau des nahenden Morgens.
»Wie es aussieht, können wir die Talpungas schon jetzt freilassen und uns den beschwerlichen Weg durch die Höhlen ersparen«, hörte sie Abbas neben sich sagen. Der Wunand hatte in der Nacht ein wenig geschlafen, war aber schon früh wieder erwacht. »Wenn das so weitergeht, können wir bald durch den Fluss schwimmen.« Die Worte klangen hoffnungsvoll, aber es lag keine Freude darin. Mitfühlend wandte er sich um und sah zu Keelin hinüber, der die Knie angewinkelt und das Gesicht tief in den Armen vergraben hatte. Auch Inahwen vermochte nicht zu sagen, ob der junge Falkner wach war oder schlief, doch die Haltung sprach für sich. Er wollte ungestört sein.
»Vielleicht sollten wir …«, hob Abbas an, verstummte aber sogleich und starrte wie gebannt auf den Arnad. »Emos zornige Kinder!«, rief er aus, sprang auf und machte ein paar Schritte auf den Fluss zu. Dann wandte er sich um und fasste den Falkner an der Schulter. »Keelin!«, rief er mit sich überschlagender Stimme. »Keelin, wach auf!« Der junge Falkner murmelte etwas Unverständliches und schlug die Hand fort, doch Abbas ließ nicht locker. »Keelin!«, drängte er. »Du musst mir zuhören. Ajana … Sie liegt am Flussufer!«
Keelin reagierte so heftig, dass es selbst Inahwen verblüffte. Mit einem Satz war der junge Falkner auf den Beinen, fahr sich mit den Händen über das Gesicht und starrte zum Fluss. »Wo?«, fahr er Abbas scharf an. »Wo ist sie?«
»Da!« Abbas deutete nach Süden. »Ich glaube, sie liegt am anderen Ufer.«
Jetzt erkannte auch Inahwen, was Abbas gesehen hatte. Hinter dem dünnen Nebelschleier, der noch über dem Arnad stand, zeichnete sich die Gestalt eines Menschen auf dem hellen Steppenboden nahe dem Ufer ab. Das Licht war schwach, doch die hellen Haare sprachen für sich. Das konnte nur Ajana sein.
Für Keelin gab es kein Halten mehr. Während er die wenigen Schritte zum Ufer zurücklegte, riss er sich das Hemd vom Leib und stürzte sich in den Fluss.
»Keelin, warte! Die Magie …« Voller Sorge, die Magie könne noch immer wirksam sein, eilte Inahwen ihm nach. Am Fluss angekommen, atmete sie erleichtert auf Keelin schwamm. Es war ein weiter Weg bis zum anderen Ufer, aber sie wusste, er würde nicht scheitern. Er würde das andere Ufer erreichen, und sie betete zu den Göttern, dass er finden mochte, wonach es ihn so sehr verlangte.
Ajana spürte, wie etwas an ihr zupfte. Es war ein seltsames und fremdes Gefühl, aber es war da. Augenblicklich machte sie sich auf die Suche nach dem Ursprung, tastete blind durch die Dunkelheit, suchend und hoffend.
Dann schlug sie die Augen auf.
Die Sonne
Weitere Kostenlose Bücher