Das Erbe der Runen 2 - Die Feuerpriesterin
tiefe Zuneigung und die stumme Bitte, ihr zu verzeihen.
Sie sagte kein Wort, doch Keelin spürte, dass es ein Abschied war – ein Abschied für immer.
»Ajanaaaa!« Ein verzweifelter Aufschrei drang aus seiner Kehle, und noch im selben Augenblick rannte er los.
Ajana sah ihn nicht mehr.
Sie hatte den Blick gesenkt und sich wieder den Nebeln zugewandt.
Dann tat sie den letzten Schritt.
Die Nebel verschluckten sie fast augenblicklich. Nur die Fußabdrücke im weichen Ufersand kündeten noch davon, wo sie gestanden hatte. Kein Schrei war zu hören und nicht einmal ein Laut vom Wasser her, nichts! Der Nebel nahm sie in sich auf, als sei sie ein Teil von ihm, und gab sie nicht mehr frei.
Nur einen Herzschlag später erreichte Keelin die Stelle, an der sie gestanden hatte. Doch er kam zu spät.
»Ajana!« Von einem Weinkrampf geschüttelt, brach er am Ufer zusammen. Seine Fassungslosigkeit mischte sich mit grenzenloser Trauer zu einer bitteren Verzweiflung, die weit über das hinausging, was ein Mensch zu ertragen vermochte. Er spürte nicht Inahwens Hände, die sich mitfühlend auf seine Schultern legten, und hörte nicht die Worte, die sie zu ihm sprach. Seine Gedanken waren allein bei Ajana. Und immer wieder stellte er sich nur die eine Frage: »Warum?«
Inahwen, Abbas und Kruin ließen ihm die Zeit, den ersten Schock zu überwinden. Da sie aber fürchteten, er könne Ajana in blinder Trauer folgen wollen, halfen sie ihm schließlich auf und führten ihn vom Wasser fort.
Alle waren bedrückt. Von der Freude über den Sieg, den sie über die Feuerkrieger errungen hatten, war nichts mehr zu spüren, und niemand verschwendete auch nur einen Gedanken daran, sich auf den Rückweg zu begeben.
Ajanas unbegreifliche Tat lähmte sie alle.
Schweigend saßen sie beisammen, während die Sonne langsam hinter dem Horizont im Westen verschwand und die Steppe nahe dem Arnad vom feurigen Glühen des Nebels erhellt wurde.
Es gab keine Worte, die ihre Gefühle hätte ausdrücken oder ihnen Linderung hätten spenden können. Es gab nur eine gewaltige Leere.
Jeder trauerte auf seine Weise, Kruin in stummer Hochachtung, Inahwen schweigend und mit versteinerter Miene, Abbas leise vor sich hin murmelnd und mit dem Schicksal hadernd, das ihm schon Maylea entrissen hatte, und Keelin von Gram und bitterem Leid gebeugt. Horus war bei ihm, doch selbst die Nähe des Falken war ihm kein Trost. Ajana war fort! Niemals wieder würde er ihre Stimme hören, niemals wieder ihre Haut berühren. Der Gedanke an die Endgültigkeit dessen, was geschehen war, zerriss ihm fast das Herz. Warum nur hatte er sie allein zum Fluss gehen lassen? Warum war er nicht bei ihr geblieben? Warum hatte er nicht gespürt, was in ihr vorging? Warum … warum? Hunderte Fragen und keine Antwort. Und immer wieder die furchtbare Ungewissheit: »Warum hat sie das getan?«
Als Ajana in die Nebel schritt, tat sie es in dem Bewusstsein zu sterben. Viele Tage lang hatte sie sich unbemerkt darauf vorbereitet, und als es so weit war, verspürte sie keine Furcht.
Der letzte Schritt fiel ihr nicht schwer.
Entgegen der Illusion des verheerenden Feuers waren die Nebel kühl und umfingen sie mit feuchten Fingern so sanft, als seien sie ihr ein Freund. Sie hüllten Ajana ein und trugen sie mit sich fort.
Ajana verspürte keinen Schmerz, nur ein Ziehen hinter der Stirn, das von einem starken Schwindelgefühl begleitet wurde. Sie schloss die Augen und wartete, dass es verging. Als sie sich besser fühlte, öffnete sie die Augen und erkannte, dass sich die Welt um sie herum verändert hatte. Das Ufer, obwohl gerade eben nur einen Schritt entfernt, war verschwunden, das Wasser des Arnad im dichten Nebel nicht zu sehen. Nichts war geblieben von dem, was Ajana an Nymath hätte erinnern können, nichts außer dem tristen Grau der Nebel.
Selbst wenn sie zurückgewollt hätte, sie hätte es nicht mehr gekonnt.
Vorsichtig schritt sie durch die Nebel hindurch, leicht und schwerelos.
War dies der Tod?
Einmal blickte sie hinab und sah eine Gestalt mit dem Gesicht nach unten reglos auf dem Wasser treiben. Blondes Haar bewegte sich leicht in der Strömung.
Das bin ich! Der Gedanke kam und verging. Ajana verspürte weder Schrecken noch Furcht. Alles war richtig, alles war gut.
Lass los und komm!
Die Stimme war verlockend und voller Wärme und weckte in Ajana den sehnlichen Wunsch, ihr zu folgen. Die Gestalt unter ihr im Wasser war nicht mehr von Belang. Es war nur
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