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Das Erbe der Vryhh

Das Erbe der Vryhh

Titel: Das Erbe der Vryhh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Clayton
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die schwierigste aller Disziplinen war. Sie beschränkte sich auf die Rolle einer Beobachterin der Dinge, die sich in ihr abspielten, und nach einer Weile fühlte sie, wie Ordnung in das in ihr herrschende Durcheinander kam, wie Kummer, Zorn und Selbstabscheu aus ihr herausfilterten, bis selbst ihre Freuden zu kleinen Rinnsalen geworden waren. Still saß sie im Schein der Sonne, dann im Licht der Sterne, im neu einsetzenden Regen, im wieder dahinwallenden Nebel, leerte ihr Bewußtsein, trennte sich von Verlangen und Angst, bis sie sich eins fühlte mit den Felsen, dem Wind und dem Dunst, bis sich ihr Pulsschlag verlangsamte und das Herz im Rhythmus des geduldigen Taktes Wolffs schlug.
    Aleytys zwinkerte. Bewegte die eine Hand. Strich sich Haar aus dem Mund, neigte sich leicht vor und zurück, um sich aus der Trance zu befreien, deren Kokon sich um sie geschlossen hatte.
    Wieviel Zeit war vergangen? Sie wußte es nicht. Nach ihrer inneren Uhr war mehr als ein Tag verstrichen, und sie begnügte sich mit dieser Angabe. Sie hatte Hunger. Das Problem ihrer Zukunft konnte warten. Dafür gab es noch Zeit genug, dafür und für all die anderen Entscheidungen, die sie treffen mußte. Darüber hinaus hatte sie immer wieder die Erfahrung gemacht, daß sich die meisten jener Entscheidungen von ganz allein ergaben, wenn es soweit war.
    Steifbeinig stand Aleytys auf, blickte auf ihren nackten und ausgezehrten Leib und schmunzelte bei der Vorstellung, so ins Haus zurückzukehren. Haupt und die anderen wären sicher sehr überrascht gewesen. Dann seufzte sie und schüttelte den Kopf. Im Vadi Raqsidan, dem Tal, in dem sie geboren war und viele Jahre lang gelebt hatte, akzeptierte man Nacktheit nur als Teil der sexuellen Intimsphäre. Ähnliches galt auch für Wolff. Ich muß noch viel länger dem Verlauf des Wilden Pfades folgen, um dieses Empfinden zu überwinden.
    Bestimmt und doch noch ein wenig unsicher, in sich selbst ruhend und noch nicht ganz im Zentrum ihres Ichs, ging Aleytys am Rand der Felswand entlang und berührte die in den Granit geritzten Zeichen des Namens Greys. Wenn du noch lebst, Liebling, wenn du noch nicht tot bist, wird Shadith dich finden. Solltest du jedoch umgekommen sein … ermordet von den Foltergelüsten eines Wahnsinnigen … spielt dann irgend etwas überhaupt noch eine Rolle für dich? Ist es dann noch wichtig, auf welche Weise du den Tod fandest? Nein, wenn du tot bist, Schatz, so hat es damit ein Ende. Wenn ich sicher wäre, daß du noch lebst, wenn ich ganz sicher sein könnte, daß meine Präsenz dein Sterben nicht beschleunigt, wenn es in dieser Hinsicht nicht den geringsten Zweifel gäbe, so würde ich mich sofort auf den Weg machen, um dich zu retten, so würde ich alles andere vergessen; meine Mutter, Vrithian, alles.
    Ganz gleich, was Kell auch anstellte: Nichts könnte mich in diesem Fall daran hindern, dir zu Hilfe zu kommen. Aber diese Sicherheit besteht nicht. Ay-Madar - wie sehr ich mir doch wünschte, die Situation wäre einfach und überschaubar, schwarz und weiß, ohne Zwischentöne. Aber in Wirklichkeit gibt es viele Nuancen, nicht wahr, Liebling…? O ja, ich würde mich gern selbst auf den Weg machen, aber es geht nicht, nein. Sie wird kommen, um dich zu retten, ein Kind meiner Seele, wiedergeboren in einem neuen Körper.
    Wie Sward-held. Ich habe dir nicht gesagt, wer und was Swardheld war -mein Zorn auf dich verhinderte das. Nein, nie habe ich dir diesen Teil meines Wesens offenbart, und das, mein Liebling, tut mir sehr leid. Doch daran läßt sich jetzt nichts mehr ändern.
    Aleytys strich mit den Fingern über den kalten Stein und wandte sich dann von der Felswand ab, um sich auf den langen Rückweg zu ihrem Gleiter zu machen.
    Wolff
    Vorbereitung
    Aleytys trat ins Wohnzimmer, und dort fand sie Shadith, die bäuchlings auf dem Läufer vor dem Kamin lag. Sie war ganz auf den Stift und das Blatt Papier konzentriert, das auf einem Buch lag. Sie benutzte ihre eigene Schriftart, und die Zeichen auf dem cremigen Weiß sahen aus wie eigentümliche Kringel. Aleytys empfand plötzlich eine tiefe Zuneigung, die dem äonenalten Kind galt, und sie lehnte sich an den Türpfosten und beobachtete, wie Shadith den Stift sinken ließ und das durchlas, was sie gerade geschrieben hatte. Kurz darauf gab sie ein abfälliges Schnauben von sich, knüllte das Blatt zusammen und warf es zu einigen anderen Blättern, die sich vor dem Kamin angesammelt hatten. Aleytys lachte leise. Und sie kicherte

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