Das Erbe der Vryhh
wenigen Ausrüstungsgegenstände, die sie bei sich trug - Ascheflecken an ihrem Leib. Feuchter Staub bedeckte die Füße. Die Pfeilschleuder war ein Klumpen aus deformiertem Kunststoff und destrukturiertem Metall, der neben ihrem Knie im Matsch lag. Aleytys schickte einige Flüche in den strömenden Regen, wurde aber rasch wieder still. Auf diese Weise ließ nur ein wenig die Wut nach, die noch immer in ihr loderte. Der Scham angesichts ihres törichten Verhaltens konnte sie damit nicht begegnen.
Sie stand auf, und der Regen kühlte die in ihr verbliebene Hitze.
Nackt und fröstelnd überlegte sie, ob es ihr jetzt noch gelingen mochte, die Wildnis wieder zu verlassen - oder ob ihre Leiche hier verblieb, um den vielen anderen Gesellschaft zu leisten, die vor ihr in dieser Region ihr Leben gelassen hatten.
Und dabei stellte sie fest, daß sie nicht die Absicht hatte, sich auf den Rückweg zu machen, und keineswegs bereit war, den Tod zu akzeptieren. Tief in ihr staute sie die Fluten ihrer Kraft und reduzierte die Körpertemperatur auf einen normalen Wert. Sie heilte die Kratzer und Hautabschürfungen mit einer Art von geistesabwesender Beiläufigkeit, die sie erstaunte, als sie später darüber nachdachte. Sie hob die Arme so hoch wie möglich, streckte den Rücken, erhob sich auf die Zehenspitzen und spürte, wie die Füße in den Schlamm sanken. Und sie begriff plötzlich, daß sie sich jetzt wesentlich besser fühlte - voller neuer Tatkraft, revitalisiert. Zuversichtlich blickte sie dem nächsten Tag entgegen und war entschlossen, die Herausforderung Keils anzunehmen.
Nach einigen Augenblicken suchte sie im Schlick umher, bis sie den letzten Kiesel fand. Eine Zeitlang hielt sie ihn in der einen Hand und sah in den Regen. Sie gewann den Eindruck, als befände sich Grey irgendwo vor ihr im Grau, verborgen hinter dem Vorhang der kalten Nässe. Er hob die Hand und winkte ihr auf die für ihn typische Weise zu, heiter und liebevoll, so wie damals, als er guter Dinge gewesen war. Dann löste sich das Phantombild auf, vereinte sich mit dem Regen.
Aleytys schob sich den Kiesel in den Mund, und anschließend eilte sie flink und gsschmeidig dahin. Mit den nackten Füßen fand sie auf dem Schlick besser Halt als zuvor mit den Stiefeln. Warum habe ich nicht schon eher daran gedacht? Hm, Tunnelblick, Selbstkonditionierung infolge der Erwartungen anderer. Darauf sollte ich in Zukunft mehr achten. Kell wird meine Schwächen ohne Zögern ausnutzen.
Die Tage verstrichen, und Aleytys lief weiter und immer weiter.
Sie verlor an Gewicht, und dann und wann hielt sie inne, um zu jagen und sich Nahrung zu beschaffen. Sie machte sich jetzt nicht mehr die Mühe, Steine zu suchen, um sich damit einen Unterstand zu schaffen. Wenn sie müde war, hockte sie sich einfach irgendwo auf den Boden und schlief, verließ sich dabei auf ihren besonderen Spürsinn, um Gefahren rechtzeitig zu erahnen. Zweimal erwachte sie und ließ warnende Flammen vor den Mäulern hungriger Silberpelze wabern. Sie tötete keine Tiere mehr. Das erschien ihr nicht notwendig und irgendwie dumm, als eine Ablenkung von der Wahrheit, die sie zu finden trachtete.
Greys Grab, ein kleiner Steinhaufen, drei Spannen hoch.
Sie erinnerte sich daran, was er ihr erzählt hatte. Am Fuß einer dreißig Meter hohen Felswand, glattgeschliffen vom kalten Wind, errichtete er sein Grab und ritzte seine Namen in den Granit. Er trat zurück, betrachtete prüfend die einfachen Zeichen und dachte darüber nach, ob er eine Bemerkung hinzufügen sollte, um den nach ihm kommenden Wanderern mitzuteilen, was er in der Einsamkeit erfahren hatte, schüttelte dann jedoch den Kopf. Grey. Es genügte. Wer auch immer diesen Ort erreichte: Der Betreffende würde bis dahin seinen eigenen Frieden gefunden haben. Und außerdem: Es gab ohnehin keine Worte für das, was er zum Ausdruck bringen wollte.
Aleytys warf den Kiesel auf das Grab und strich mit den Fingerspitzen über die Buchstaben, die selbst nach mehr als zwölf Jahren noch im Fels zu sehen waren. Es regnete nun nicht mehr, und die Nebelschwaden lösten sich vorübergehend auf. Ein klarer und heller Tag, recht warm sogar, in einem Einschnitt der Felswand, in der man vor dem schneidenden Wind geschützt war. Aleytys hockte sich in der stillen Behaglichkeit nieder, den Rücken nahe an dem Granit, ohne ihn zu berühren. Schweigend saß sie da, ließ ihre Gedanken formlos dahinflüstern, konzentrierte sich auf nichts und gab sich ganz frei, was
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