Das Erbe der Vryhh
lebe mit dem Guten in mir, und ich nutze das Böse, auf daß es mir Kraft gibt.
Ja, ich könnte mich den Manai anschließen und ein freies und wildes Leben unter den Monden führen, nur den Gefährten des Wolfsrudels verpflichtet, ohne all die Pflichten und Verantwortlichkeiten, die mir dauernd so zusetzen und mich nie zur Ruhe kommen lassen.
Ein Teil dieser Wahl fiel ihr nicht schwer. Die Amaiki von vorgestern war tot. Es käme dem Versuch gleich, in einer verwesenden Leiche zu leben, wenn sie sich bemühte, zu jener Frau zurückzukehren und zu leugnen, was an diesem Ort mit ihr geschehen war. Die Entscheidung zwischen den beiden anderen Möglichkeiten war weitaus problematischer. Jetzt - gerade jetzt -empfand sie den Ruf des Rudels als sehr mächtig und verlockend. Obgleich Stille herrschte, hatte sie nach wie vor das Gefühl, das Grölen der Manai zu hören, ihr sorgloses Gelächter, und sie spürte auch ihr Gemeinschaftsgefühl.
Schließlich jedoch wandte sie sich innerlich von dem Rudel ab
-sie kicherte leise, als sie begriff, was diese Wahl für sie getroffen hatte, mußte sich den einen Zipfel der Steppdecke in den Mund schieben, um nicht lauthals zu lachen. Es war keine noble Geste, die sie überzeugte, weder ein Hinwenden zum rationalen und zivilisierten Selbst noch die Besinnung auf ihr Pflichtbewußtsein. Vielmehr basierte ihre Entscheidung auf dem eigenen Gestank, auf dem Verlangen nach einem heißen Bad. Amaiki haßte es, schmutzig zu sein. Ihre Mutter hatte sie deswegen aufgezogen und sogar behauptet, selbst ihre Windeln seien ein Musterbeispiel für Sauberkeit gewesen. Nein, wenn sie das freie Leben unter dem Himmel wählte, gab es keine heißen Bäder mehr für sie, keinen frischen Überrock an jedem Tag, keine sauberen Laken und Decken, unter die sie des Abends kriechen konnte. Angesichts der derzeitigen Situation mochte es viele Tage, vielleicht gar ein Jahr dauern, bis sie sich wieder an solchen Dingen erfreuen konnte - doch irgendwann würde sie sie erneut genießen, das versprach sich Amaiki.
Wenn sie sich jedoch dem Rudel anschloß, so nahm sie damit für immer von dieser Vergangenheit Abschied. Als es nicht mehr lange bis zur Morgendämmerung dauerte, fand sie ihren inneren Frieden wieder, grinste in die Dunkelheit und dachte an das ironische Lachen Kerans, wenn sie ihm von dieser Nacht erzählte, an das Erstaunen Muris, das verständnisvolle Lächeln Betakis, das Schnauben Kimpris und jenes warme Empfinden, das Se-Passhi ihr vermittelte, wenn sie den Naish an sich drückte. Ihr Atemrhythmus beschleunigte sich. Wie konnte sie überhaupt die Vorstellung ertragen, ihren Zirkel nie wiederzusehen? Daran war nur das Chaos um sie herum schuld. Sie schwindelte, weil sie nicht genug getrunken und gegessen hatte - das mußte die Erklärung sein.
Andererseits jedoch war Amaiki nun ehrlich genug zuzugeben, daß sich ein Teil ihres Wesens nach den Dingen sehnte, die ihr die Manai geben konnten. Jener Teil lehnte die Zirkelbrüder und -
Schwestern ab, obwohl die Liebe, die sie ihren Partnern entgegenbrachte, tief in ihr verwurzelt, sie mit Banden an Keran und die anderen gefesselt war, die sie nicht zerreißen konnte und das auch gar nicht wollte.
Im trüben Licht des Morgengrauens ritten die Manai-Wölfe fort von dem Gehöft, ohne Amaiki entdeckt zu haben. Als das Pochen der Hufe in der Ferne verklungen war, verharrte sie noch eine volle Stunde lang auf dem Speicher, steuerte dann den Schlitten nach unten und schob ihn ins Sonnenlicht, so daß die Batterien voll aufgeladen werden konnten. Sie holte einen sauberen Überrock hervor und nutzte einen Teil ihres viel zu rasch schwindenden Wasservorrats, um sich zu waschen. Im Anschluß daran kletterte sie auf den höchsten Pfosten der nächsten Pferchumzäunung und ließ sich von der Wärme der Sonne trocknen - bis sie wieder das Empfinden hatte, rein zu sein.
Nachdem sie ein kräftiges Frühstück zubereitet, es verspeist und einige Becher Kräutertee dazu getrunken hatte, fühlte sie sich so gut wie schon lange nicht mehr. Sie war nun nicht nur dazu bereit, die Reise fortzusetzen, sondern freute sich bereits auf die Begegnung mit den habgierigen, diebischen und allesamt verab-scheuungswürdigen Tiefländern zwischen ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsort und Shim Shupat.
Zwei Tage später erreichte sie die Hafenstadt, zwar ohne weitere schockierende Überraschungen erlebt zu haben, aber doch mit einer weitgehenden Bestätigung ihrer Meinung über die
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