Das Erbe der Vryhh
sie sich die Decke um die Schultern und drückte sie fest an sich. Doch damit konnte sie ihr Schaudern nicht lindern; sie biß die Zähne zusammen, und Tränen der Wut quollen ihr in die Augen.
Um sie herum wurde es langsam wärmer, als die Sonne höher über den Horizont stieg, doch das änderte nichts an der in ihrem Leib verbleibenden Kühle. Eigentlich war alles ganz einfach. Es kam nur darauf an, daß sie ihrem Zirkel in Richtung Küste folgte.
Das Verlassen des Domes Hyarolls war der schwierigste Teil dieses Unterfangens gewesen, und der Rest … Mit ein wenig Achtsamkeit und den nötigen Vorbereitungen mußte es gelingen. Wilde Manai - wie lange mochte es noch dauern, bis sie Jagd auf Naidisa und Tokon machten? Das Gefüge der Welt, die Amaiki liebte und schätzte, lösten sich immer mehr auf, und nach und nach wurde sie sich selbst fremd. Alles um mich herum verfällt, dachte sie. Alles verrottet und vermodert. Mutter des Seins - was geschieht nur mit uns? Lange Zeit verharrte sie reglos - bis ihr Magen knurrte und sie an die Notwendigkeit erinnerte, eine Mahlzeit einzunehmen. Während des ganzen endlosen Tages hörte sie das Grölen der Plünderer. Sie zerstörten einen Stall und setzten ihn in Brand, um irgend etwas zu braten. Der übelkeiterweckende Gestank von halb verbranntem Fleisch wehte in den Schuppen, und Amaiki wollte lieber nicht darüber nachdenken, was die Manai verspeisten. Und als sich das Licht des Tages zu trüben begann, überlegte sie, ob die Plünderer die Absicht hatten, sich für einige Tage in dem Anwesen niederzulassen. Einen fortdauernden Aufenthalt der Conoch’hi-Wölfe konnte sie unmöglich überleben; ihre Blase stellte sie schon jetzt vor ein Problem. Sie schob die Strohreste in einer Ecke des Speichers zusammen und entleerte sie dort, und ihr Urin war recht zähflüssig, weil sie die Wasseraufnahme seit zwei Tagen auf ein Minimum reduziert hatte. Ein starker Geruch ging davon aus. Und jeder, der nun in den Schuppen kam und dessen Nase nicht verstopft war, mußte ihn riechen und sofort wissen, daß sich hier jemand versteckte. Wenn die Manai ihr Lager an diesem Ort aufschlugen und sich schlafen legten … Nein, nein, bestimmt stellten sie Wachposten auf, und sie würden die Verfolgung aufnehmen, wenn sie mit dem Gleitschlitten zu entkommen versuchte. Das Fahrzeug war nicht schnell genug; sogar ein altersschwacher Kedoa konnte es einholen. Fort mit euch, dachte sie. Verschwindet von hier. Dieser Bereich ist dem Tiefland zu nahe; es ist nicht sicher, hier zu ruhen. Macht euch auf und davon. Sie verabscheute sich wegen ihrer Furcht, haßte sich wegen des Gestanks und des an ihr haftenden Schmutzes. Im Verlauf der Stunden verringerte sich ihre Selbstachtung immer mehr, und sie begann sich ebenso zu verachten wie die Manai-Wölfe draußen. Vor allen Dingen jedoch graute ihr vor dem starken animalischen Instinkt in ihr, den sie mit den wilden Conoch’hi in Verbindung brachte. Beim Klang der Stimme des Manas namens Napann war nicht nur Angst in ihr entstanden. Geht weg, weg von mir, laßt mich meinen Weg fortsetzen.
Verschwindet.
Schließlich neigte sich der Tag seinem Ende entgegen. Ein zweitesmal leerte Amaiki ihre Blase und würgte angesichts des Uringestanks, dachte mit Schrecken an die Möglichkeit, daß jemand den Schuppen betrat. Draußen trieb sich noch immer das Wolfsrudel herum, gab Geräusche von sich, die so klangen, als heulten die Manai den aufgehenden Mond an, schwiegen dann, als das letzte Licht des Tages verblaßte. Während der langen Stille rang Amaiki mit sich selbst. In der Ruhe und den dunkler werdenden Schatten der Nacht fand sie die Kraft, sich mit ihren Wünschen und Ängsten zu befassen, mit dem neuen Verständnis, das sie ihrem eigenen Wesen entgegenbrachte. Ich habe ein Bild von mir selbst gesehen, überlegte sie. Die Möglichkeiten betrachtet, die auch in mir wohnen. In all den Jahren meines bisherigen Lebens fand ich nicht so viel über mich heraus wie an diesem Tag.
Sicher: Vielleicht könnte ich einfach vergessen, was ich in mir erblickte, mich auf die Rolle der sanftmütigen und freundlichen Amaiki beschränken, die gelegentlich eine scharfe Zunge hat, sich aber voller Hingabe dem Grün der Welt widmete und es geschickt zu formen verstand. Ja, ich kann erneut jene Frau sein, bin aber gleichzeitig noch mehr. Ich vermag nun das ganze Entwicklungspotential in mir zu erwecken, es sprießen zu lassen, so wie Pflanzen Knospen und neue Triebe bilden. Ich
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