Das Erbe der Vryhh
schläft jedoch.«
Shareem schluckte ein weiteres Mal und versteifte Rücken und Knie. »Das steht zweifelsfrei fest?«
»Ja, Anassa.«
»Dann such sie, Ikanom. Bring sie zu mir. Es ist wichtig. Wichtiger als alles andere, was der Kephalos bisher gemacht hat. Finde sie. Bring sie zu mir.« Sie sah sich um. »Hierher. Ja, in diesen Saal.
Wenn ich sie mit eigenen Augen sehe, kann ich beurteilen, welche Hilfe sie braucht.«
»Der Kephalos sucht, Anassa. Möchten Sie etwas essen, während Sie warten?«
Sie starrte auf die sich wölbenden und wieder glättenden Ebenen, aus denen sich das Gesicht des Androiden zusammenfügte.
Wie könnte ich jetzt etwas essen? Sie preßte die Hände auf die Magengrube. Aber ich sollte tatsächlich etwas zu mir nehmen. Ich weiß nicht… Ja, es wäre besser. »In Ordnung«, erwiderte sie.
»Bring mir … bring mir eine Omelette mit Toast und … hm …
etwas Shalla-Soße … hm … und einer Kanne Cha. Serviere die Mahlzeit dort drüben.«
Sie deutete auf einen kleinen Tisch mit zwei Stühlen, in einer Nische, durch deren Fenster man einen guten Blick auf den Garten hatte.
»In zwanzig Minuten, Anassa. Wenn Ihnen das recht ist.«
»Ja.«
Ikanom ging. Shareem schritt langsam und vorsichtig über das komplexe Muster des Parkettbodens, nahm auf einem der beiden Stühle Platz und kehrte dem Saal den Rücken zu, um nicht zu sehen, wie leer er war. Der vorherige Schreck wich nun einem Gefühl der Benommenheit, und Furcht und Zorn verwandelten sich in Apathie. Wenn Aleytys mit ihren Bemühungen während der vergangenen Nacht keinen Erfolg gehabt hatte, so war es möglich, daß die Rakete des kommenden Nachmittags als Auslöser für das Zerstörungsinstrument diente, das sich irgendwo im Herzen des Domes befand. Oder auch der morgige Angriff. Oder tausend andere Dinge. Sie dachte nicht mehr darüber nach. Hatte keine Kraft mehr dazu. Sie wollte nur, daß das Entsetzen möglichst bald ein Ende fand, auf die eine oder andere Weise. Wenn Kell in diesem Augenblick mit einem Messer in der Hand herangekommen wäre, um ihr die Kehle durchzuschneiden, hätte Sha-reem den Kopf gehoben, um ihm die Arbeit zu erleichtern.
Die Zeit verstrich, jede Sekunde eine Ewigkeit. Einige Ewigkeiten später rollte einer der Hausdiener heran und servierte das Essen.
Shareem starrte auf die Speisen. Zuerst glaubte sie, keinen Bissen herunterbekommen zu können, doch sie zwang sich dazu, an dem Toast zu knabbern und den Fruchtsaft zu trinken. Kurz darauf verschwand das Gefühl der Übelkeit aus ihr, und plötzlich hatte sie einen solchen Appetit, daß sie sich selbst zur Ordnung rufen mußte, um langsamer zu essen.
Die im Saal herrschende Stille beruhigte sie, und die warme Mahlzeit verdrängte einen Großteil der Besorgnis aus ihr. Nach einer Weile war Shareem wieder gefaßt genug, um das Refugium der Lethargie zu verlassen, das rasch zu einer Falle werden konnte. Sie blieb noch eine Zeitlang am Tisch sitzen und sah zu, wie draußen der Tag heller wurde, rechnete jeden Augenblick mit der Meldung, daß der Kephalos Aleytys gefunden hatte. Nach einer halben Stunde stand sie auf und schritt durchs Haus, blickte in jedes einzelne Zimmer, wanderte durch die langen Gänge und Korridore und nahm sich auch die Lagerräume und Wartungskammern vor. Sie prüfte sogar die größeren Kisten, wobei sie sich nicht eingestand, daß sie eigentlich nach dem Leichnam ihrer Tochter suchte. Sie durchstöberte jeden noch so seltsamen Winkel des sonderbaren Hauses, ohne auch nur eine Spur von Aleytys zu finden.
Wenn ich nahe genug an sie herankomme, spüre ich bestimmt ihre Nähe . . . sagte sie sich immer wieder. Aber ob das nun der Wahrheit entsprach oder nicht: Es offenbarten sich ihr keine solchen Empfindungen.
Später Nachmittag. Shareem befand sich in der Bibliothek, kam an einem Fenster vorbei und sah das Aufblitzen, das darauf hinwies, daß gerade eine weitere Rakete zerstört worden war. Sie warf einen kurzen Blick auf ihr Ringchronometer. Pünktlich wie immer.
Sie schloß die Augen und lauschte. Nichts geschah. Entweder sollte der neuerliche Angriff gar nicht als Auslöser für die Bombe dienen, oder es war Aleytys tatsächlich gelungen, das Ding zu entschärfen. Sie ließ sich in den Sessel am Schreibtisch sinken, stützte den Kopf auf die Hände und dachte nach. Nur an einem Ort habe ich nicht nachgesehen. Und dort ist mir der Zugang versperrt Das Herz des Domes. Ja. Der Kephalos.
Von einer Sekunde zur anderen war
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