Das Erbe des Alchimisten
nicht bieten, des Liebsten, der mich nicht mehr lieben kann als ich mich selbst. Kein Wunder, daß er sich gegen mich wandte, als ich ihm nicht mehr vertraute. Er ist der Spiegel auf dem Grabstein meiner Seele. Langsam schwindet der Staubfilm davon, und ich erkenne im Spiegel, wie ich mich langsam Stück für Stück begraben habe – seit dem Zeitpunkt, an dem ich dieses Haus zum erstenmal betrat, seit dem Klopfen an der Tür.
Wer ist da? Dein Liebster. Öffne die Tür.
»Aber ich kann sie nicht offenhalten«, flüstere ich.
Er berührt sanft meine Unterlippe. »Sita.«
Ich wende meinen Kopf ab. »Nein. Du mußt zurückgehen.«
»Wohin?«
»Dorthin, woher du gekommen bist.«
»Du meinst den Abgrund. Den Ort, an dem nichts ist. An dem auch ich nicht bin.«
Meine Stimme klingt aufgewühlt, fast ein bißchen hysterisch. »Aber hier bist du auch nicht. Du bist weniger als ein Geist. Niemand kann dich sehen. Wie soll ich dich da lieben können?«
Er ergreift meine Hand. »Aber du spürst mich doch. Du weißt doch, daß ich hier bin.«
Ich versuche, seine Hand abzuschütteln, doch statt dessen halte ich sie nur noch fester. Aber ich presse sie nicht gegen mein Herz, wie ich es früher so oft getan habe. Seine Hand ist so kalt.
»Nein«, sage ich. »Ich weiß, daß du nicht hier bist.«
Er küßt meine Fingerspitzen, die Berührung ist sanft wie ein Schmetterlingshauch. »Fühlst du das wirklich?«
»Nein.«
»Du lügst.«
»Du bist es, der lügt. Du existierst nicht einmal. Wie kann ich es schaffen, daß du verschwindest?«
Meine Worte verletzen ihn, scheinen ihn fast zu zerstören. Einen Moment lang schimmert sein Gesicht, scheint vor meinen Augen zu schwinden. Doch dann atmet er tief ein, und der Blick seiner warmen, braunen Augen fesselt meinen Blick. Er ist nicht bloß ein Spiegel, er ist das Hologramm einer Dimension, in der es mehr gibt als Zeit und Raum. Er ist die Illusion schlechthin. Die absolute Liebe, gekleidet in den Mantel meines Schmerzes. Kein Wunder, daß er die Sachen trug, in denen er starb, als ich ihn in dem Coffee Shop wiedersah. Er ist nichts als eine Erinnerung aus dem Tunnel, den alle menschlichen Seelen passieren müssen, wenn sie diese Welt verlassen. Ja, Ray ist tot, doch er steht für meinen Tod genauso wie für seinen.
Er scheint meine Gedanken zu lesen.
Seine Hoffnung schwindet. Er beantwortet meine letzte Frage.
»Ich starb als ein Vampir«, sagt er. »Du mußt mich so töten, wie du einen Vampir töten würdest.« Damit nimmt er ein Messer, das auf dem Tisch liegt, und drückt es in meine Hand. »Mein Herz schlägt nur für dich.«
Er will, daß ich sein Herz herausschneide. Ich versuche ihn wegzustoßen, aber er hält mich fest. Ich spüre seinen Atem auf meinem Gesicht wie den kühlen Hauch winterlichen Windes. Seine Augen erstrahlen plötzlich in einem merkwürdigen roten Licht, einem Licht, das ich oft in den Augen meiner Tochter gesehen habe.
»Wenn ich in die Unterwelt zurückkehre, werde ich Kali wiedersehen«, sagt er. Er drückt den Griff des Messers in meine Hand. »Tu’s schnell. Du hast recht, die Liebe ist tot. Ich möchte sterben.«
»Und ich hätte niemals geboren werden dürfen«, flüstere ich als Antwort auf seine letzte Bemerkung.
Ein schwaches Lächeln gleitet über sein Gesicht. »Auf Wiedersehen, Sita.«
Ich steche ihm das Messer ins Herz. Es schneidet durch sein Fleisch und seine Knochen, und sein Blut strömt über meine Hände, auf meine Kleider, auf den Boden. Das schwarze Blut des Abgrunds, der unendlichen Leere. Ich schreie, als ich ihn töte, bettle um Gottes Gnade, und das Messer entgleitet meinen Händen und fällt zu Boden. Das Blut verschwindet.
Sein Herz schlägt nicht länger, und ich bin nicht länger blutbesudelt.
Er ist fort, mein Liebster aus alten Zeiten ist verschwunden.
Draußen geht die Sonne auf.
Ich nehme Yakshas Blut und gieße es in das Gefäß, das einst Seymours Blut enthielt. Dann plaziere ich den durchsichtigen Behälter oberhalb des Kupfers und der Kristalle, zwischen den Magneten und dem winzigen Spiegel, der die Strahlen der Sonne auf Arturos Mysterium lenkt. Ich lege mich auf die Kupferplatte, und die Alchemie beginnt ihr dunkles Werk an meinem zitternden Körper zu tun. Ich frage mich, was genau ich sein werde, wenn die Sonne schließlich untergeht und die Magie ihr Werk getan hat. Ohne den Grund dafür zu kennen habe ich auch ein paar Tropfen des Bluts von Paulas Kind in das Gefäß getan. Das Blut des Kindes, das Kalika über alles
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