Das Erbe des Alchimisten
»Bald.«
»Das weißt du sicher?«
»Ich weiß viele Dinge, Mutter.«
»Warum hängt es allein von mir ab?« frage ich. »Du bist für das, was uns passiert ist, nicht weniger verantwortlich als ich.«
»Nein.«
»Hör auf damit, nein zu sagen. Hör auf damit, ja zu sagen. Erklär es mir endlich!«
Er schweigt lange, bevor er entgegnet: »Was soll ich dir sagen?«
Ich lege die Hände an meine Schläfen. »Sag mir, wer du bist. Sag mir, warum du nicht mehr so bist wie der Ray, den ich einst kannte. Sag mir, wie du mich in dem Coffee Shop gefunden hast.« Ich fühle mich so entsetzlich schwach. »Und warum du damals an meine Tür geklopft hast.«
»Wann habe ich an deine Tür geklopft?«
»Hier.« Ich bedeute ihm, was ich meine. »Du hast an genau diese Tür hier geklopft, und du hast mir gesagt, daß du es bist.«
»Wann habe ich an deine Tür geklopft?« wiederholt er seine Frage.
Tatsächlich habe ich sie ihm nicht beantwortet. Er fragt nach der Zeit, und ich habe ihm den Ort genannt. Ich zwinge mich dazu, die nächsten Worte auszusprechen:
»Direkt nachdem ich mich in einen Menschen verwandelt habe«, antworte ich.
»Ja.«
»Findest du nicht, daß das ein bemerkenswerter Zufall ist?«
»Ich finde, daß du jetzt aufhören solltest.«
Meine nächsten Worte richte ich mehr an mich selbst: »Du behauptest, daß diese beiden Ereignisse etwas miteinander zu tun haben – meine Verwandlung und dein Wiederauftauchen. Du sagst, daß du nur wieder aufgetaucht bist, weil ich Mensch geworden bin.«
»Heiß.«
Ich überlege. »Was fehlt noch?«
»Vieles.«
»Aber du hast gesagt, daß ich nah dran bin.«
»Beim Würfelspiel zählt nicht, ob man nah dran ist oder nicht. Man gewinnt – oder man verliert.«
»Was habe ich verloren, als du zurückgekehrt bist?«
»Was zählt nicht. Das Warum ist entscheidend.«
»Nun lausche mein Lied. Es vertreibt alle Illusionen… Wenn du dich einsam fühlst, erinnere dich an mich, und du wirst erkennen, daß die Dinge, die du dir am meisten wünschst, die Dinge sind, die dir den größten Kummer bereiten.«
»Ich habe mir stets zwei Dinge gewünscht«, sage ich und erinnere mich an die Worte des Herrn. »Fünftausend Jahre lang habe ich sie mir gewünscht. Es sind die zwei Dinge, die Yaksha mir in der Nacht genommen hat, als er zu mir kam und mich in einen Vampir verwandelte. In dieser Nacht nahm er mir meine Tochter und meinen Ehemann. Ich habe keinen von ihnen je wiedergesehen.«
Ray nickt mitfühlend. »Ich weiß.«
Ich senke den Kopf. Jetzt bin ich es, die im Schatten steht. »Doch als du in mein Leben kamst, hatte ich das Gefühl, mein Ehemann Rama sei zu mir zurückgekehrt. Und als ich Mensch geworden war und glaubte, von dir schwanger zu sein, war es, als hätte Krishna mir meine Tochter Lalita zurückgegeben.« Eine Träne rinnt über mein Gesicht, und ich muß innehalten und tief durchatmen. »Aber so war es nicht. Das, nach dem ich mich so lange gesehnt habe, waren nur Illusionen. Und sie haben mir großen Kummer bereitet.«
»Ja.«
Ich hebe den Kopf und starre ihn an.
»Sie waren nicht wirklich«, sage ich.
»Ja.«
»Als ein Vampir habe ich meine Illusionen durchschaut, und das hat mir über all die Jahre geholfen, doch als ein Mensch konnte ich nicht unterscheiden, was wirklich war und was nicht. Ich war zu schwach dazu.«
»Du erschaffst das, was du erschaffen willst. Das hast du immer getan. Wenn es dir nicht gefällt, kannst du noch immer gehen.«
Er spricht sanft, aber ich spüre die Leidenschaft in seinen Worten. »Sag es nicht, Sita.«
Aber ich muß. Ich habe das Gefühl, durch ihn hindurchsehen zu können. Ich verstehe, warum er niemals ausgegangen ist. Warum er niemals meine Freunde treffen und sich nur mit Kalika und mir unterhalten wollte. Warum ich alles mit meinen eigenen Händen tun mußte. Es waren die einzigen Hände, die uns zur Verfügung standen.
»Du bist nicht wirklich«, flüstere ich.
Er tritt aus dem Schatten. Sein Gesicht ist wunderschön.
»Es ist ohne Bedeutung, Sita. Zumindest können wir so tun, als wäre es das. Ich will dich nicht verlassen.«
Mein Körper schmerzt vor Elend. »Aber du bist tot«, stöhne ich.
Er tritt so nah an mich heran, daß ich ihn berühren kann. »Das ist doch egal.«
Ich bin zu entsetzt für Tränen; mein Körper wird von trockenen Schluchzern geschüttelt. Sie sind Zeichen dafür, daß mein Körper vor Schmerz ausgetrocknet ist, traurige Überbleibsel von Gefühlen. Mehr als dies kann ich dem Schatten meines Liebsten
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