Das Erbe des Alchimisten
fassungslos.
Plötzlich ergibt alles einen Sinn. Vampire sind unfruchtbar – auch mit menschlichen Partnern. Doch Arturo war weder Vampir noch Mensch. Er war ein Mischling, eine Kombination von beidem, und kurz bevor er mich an die Regierung verriet, habe ich in einem Hotelzimmer hier in Las Vegas mit ihm geschlafen. Ich war schon vor der Umwandlung schwanger! Mit anderen Worten: Als ich Kalika empfing, war ich noch ein Vampir! Doch sie ist zum Teil auch menschlich, was ihre Unempfindlichkeit gegenüber Sonnenlicht erklärt. Sie ist das Ergebnis eines genetischen Würfelspiels, und das erklärt vieles!
Und ich habe geglaubt, Ray sei ihr Vater!
Ich spüre ihn in meinem Rücken, bevor er zu reden beginnt.
»Ich bin erstaunt, daß du nicht schon früher drauf gekommen bist«, sagt er.
Ich drehe mich um, in den Händen halte ich noch immer das Foto. Ray bleibt im Schatten stehen. Plötzlich verstehe ich nicht nur die Umstände von Kalikas Geburt. Unzählige Einsichten umschweben wie Geister meinen Kopf, lassen sich erahnen, ohne schon ganz in den Bereich der Vernunft und des Verstandes vorzudringen. Verzweiflung ergreift mich. Ich will das alles nicht glauben! Gleichzeitig habe ich das Gefühl, auf einem Friedhof zu stehen, mit einem Grabstein in meinem Rücken. Der noch in der Zukunft liegende Todestag des Leichnams ist in den Stein gemeißelt, der Name in Blut geschrieben, das niemals trocknen wird. Ich kenne die Wahrheit, doch ich weigere mich, ihr ins Auge zu sehen.
Auf dem Grabstein befindet sich ein Spiegel.
Er ist mit einem dünnen Film schwarzen Staubs überzogen.
»Du hättest es mir sagen können«, flüstere ich.
»Ich konnte dir nur das sagen, was du hören wolltest.«
Die Schwäche, die der Schmerz mit sich führt, breitet sich in meinen Gliedern
aus. Ray ist für mich nurmehr eine Karikatur, und ich kann es nicht ertragen, ihn anzusehen, aber gleichzeitig will ich auch nicht, daß er geht. Er ist alles, was ich noch habe. Der Friedhof in meinem Kopf ist voller verborgener Tretminen. Ich fürchte, daß sie bei einer Bewegung oder einem Wort von mir explodieren und eine Leiche in meinen Schoß werfen.
»Wie bist du hergekommen?« frage ich.
»Du hast mich hergeführt.«
»Weiß Kalika, daß ich hier bin?«
»Ich glaube nicht. Aber ich bin nicht sicher.«
»Du hast es ihr nicht gesagt?«
»Nein.«
Ich stelle die Fotografie zurück und nutze den Moment, um mich ein wenig zu
sammeln. Das Bild von dem Friedhof mit all seinen Grabsteinen in meinem Kopf löst sich auf. Doch ich stehe immer noch in diesem Haus, in dem einst Arturo lebte.
»Darf ich dich etwas fragen?« sage ich schließlich.
Er steht noch immer im Schatten. »Frag mich nichts, auf das du in
Wirklichkeit gar keine Antwort willst.«
»Aber ich will die Antwort.«
Er schüttelt den Kopf. »Nur wenige wollen die Wahrheit wissen. Dabei macht
es keinen Unterschied, ob du ein Vampir bist oder ein Mensch. Der Wert der Wahrheit wird überschätzt, und sie zu erfahren ist oft schmerzlich. – Verzichte darauf, Sita«, fügt er hinzu.
Meine Stimme verbirgt meine Gefühle nicht. »Eines muß ich wissen«, murmele ich.
»Nein«, warnt er, »tu dir das nicht an.«
»Nur eine Sache. Ich habe begriffen, wie du mich in Las Vegas gefunden hast. Du hast es mir erklärt, und ich konnte deine Erklärung nachvollziehen, aber du hast mir nie gesagt, wie du es geschafft hast, meine Fährte in Los Angeles aufzunehmen. Während ich hierherfuhr, hättest du eigentlich im Keller dieses Hauses sein und dich in einen Menschen zurückverwandeln sollen.« »Es war dunkel in dieser Nacht«, sagt er.
Seine Antwort verwirrt mich. »Nachts ist es immer dunkel.«
»Im Keller wäre es ebenfalls dunkel gewesen.«
Meine Verwirrung schwindet. »Du brauchst die Sonne, damit der Zauber der Alchimie wirkt.«
»Ja.«
»Du bist immer noch ein Vampir?«
»Nein.«
»Bist du uns nach L.A. gefolgt?«
»Nein.«
»Wer bist du? Was hat Eddies Blut bei dir bewirkt?«
»Nichts. Ich bin niemals mit Eddies Blut in Berührung gekommen.«
»Aber du sagtest…«
»Ich habe gelogen«, unterbricht er mich. »Du wolltest, daß ich dich belüge. Du willst die Wahrheit gar nicht wissen. Du machst dir selbst etwas vor, wenn du es behauptest. Hör auf damit, Sita! Wir können diesen Ort gemeinsam wieder verlassen. Es kann wieder so zwischen uns werden, wie es einst war, wenn du nur willst. Es hängt allein von dir ab.«
»Du bist nicht bereit, es zu erfahren.«
»Wann werde ich bereit sein?«
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