Das Erbe des Zauberers
Frau Reineweiß und deutete auf die große braune Kanne zwischen ihnen. »Isch kenne Hexen, die sich darauf spezialisiert haben, aber meiner Ansicht nach sind sie viel zu … gewöhnlich. Womit isch dir natürlich nicht zu nahe treten will.«
Granny war ziemlich sicher, daß die Haushälterin tatsächlich nicht die geringste Absicht hatte, sie irgendwie zu beleidigen. Sie offenbarte den zuvorkommenden Eifer eines kleinen Hündchens, das die schlechte Laune des Herrchens spürt und an Alpträumen von zusammengerollten Zeitungen leidet.
Sie nahm die Tasse von Frau Reineweiß zur Hand und sah hinein. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie gerade noch rechtzeitig den enttäuschten Ausdruck, der wie ein flüchtiger Schatten durch das schneeweiße Gesicht der Haushälterin huschte. Granny rief sich das übliche Ritual ins Gedächtnis zurück: Dreimal drehte sie die Tasse entgegen dem Uhrzeigersinn, strich mehrmals mit der Hand darüber hinweg und murmelte einen Hexenzauber – den sie normalerweise verwendete, um die Brustdrüsenentzündungen älterer Ziegen zu behandeln (man konnte nie wissen). Die Zurschaustellung magischer Talente beeindruckte Frau Reineweiß zutiefst und stimmte sie gleich wesentlich fröhlicher.
Eigentlich konnte Oma Wetterwachs mit Teeblättern nicht viel anfangen, aber sie achtete darauf, sich nichts anmerken zu lassen. Mit bedeutungsvoll gerunzelter Stirn betrachtete sie den dicken Zuckerbelag am Tassenboden und ließ ihre Gedanken treiben. Was sie jetzt wirklich brauchte, war eine flinke Ratte oder auch nur eine Küchenschabe, die sich in Eskarinas Nähe befand. Ein kurzes Borgen hätte genügt, um in Erfahrung zu bringen, wie es dem Mädchen ging.
Zu ihrer großen Überraschung stellte sie kurze Zeit später fest, daß die Universität ein eigenes Bewußtsein hatte.
Es ist allgemein bekannt, daß Steine denken können (immerhin beruht die ganze Elektronik auf dieser Tatsache), aber in manchen Universen blicken die Menschen lieber zum Himmel empor und suchen dort nach Intelligenzen, anstatt unter ihren Füßen nachzusehen. Der Grund dafür: Sie machen sich völlig falsche Vorstellungen vom Begriff Zeit. Aus der Perspektive eines Steins gesehen ist der Kosmos gerade erst geschaffen worden; Gebirgszüge hüpfen wie Gummibälle auf und ab; Kontinente sausen ausgelassen hin und her, prallen aus reiner Freude aufeinander und schaben sich gegenseitig die Felsen ab. Es wird noch ziemlich lange dauern (was dem Menschen nur recht sein kann), bis der Stein sein seltsames Hautleiden bemerkt und sich zu kratzen beginnt.
Doch das Gestein, aus dem die Unsichtbare Universität besteht, hat im Laufe von vielen Jahrtausenden Magie absorbiert, und diese ungerichtete Kraft muß natürliche Konsequenzen nach sich ziehen.
Anders ausgedrückt: Die Universität hat eine ureigene Persönlichkeit entwickelt.
Oma Wetterwachs fühlte sich wie ein großes gutmütiges Tier, das nur darauf wartete, sich aufs Dach zu rollen, damit ihm jemand den Boden krault. Es schenkte ihr überhaupt keine Beachtung, richtete seine Aufmerksamkeit statt dessen auf Eskarina.
Granny fand das Kind, indem sie den mentalen Interessefäden der Universität folgte, und fasziniert sah sie zu, was im Großen Saal geschah …
»… dort drin?«
Die Stimme erklang in weiter Ferne.
»Mmpf?«
»Isch sagte: Was erkennst du dort drin?«, wiederholte Frau Reineweiß. »Wie?«
»Isch sagte: Was …«
»Oh!«
Granny zog ihre gedanklichen Arme zurück und versuchte, sich aus dem Kokon der Verwirrung zu befreien. Wenn man einen anderen Geist borgte, so fühlte man sich nach der Rückkehr in den eigenen Körper immer irgendwie fehl am Platze. Außerdem hatte die Hexe noch nie zuvor versucht, durch die symbolischen Augen eines Gebäudes zu sehen. Sie bemühte sich, die Erinnerungen an massive Größe, kalte Fliesen und weite Korridore zu verdrängen.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
Granny nickte und öffnete ihre Fenster. Sie streckte die Ost- und Westflügel aus und starrte auf die Tasse, die sie in ihren Säulen hielt.
Zum Glück führte Frau Reineweiß sowohl den steinernen Gesichtsausdruck der Hexe als auch ihr Schweigen auf okkulte Mächte zurück. Unterdessen stellte Granny nicht ohne eine gewisse Genugtuung fest, daß der Kontakt mit dem Siliciumgedächtnis der Universität ihre Phantasie beflügelte.
Mit einer Stimme, die wie ein zugiger Korridor klang und der Haushälterin sehr imponierte, schilderte sie eine Zukunft, in der es von
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